Die Lebenskünstlerin (German Edition)
möglichst objektiv die Realität sehen und nur die Realität.
Ich weiß, dass ich den Hang dazu habe, Träume und Wunschvorstellungen in eine Begegnung hineinzuprojizieren und mir schnell Illusionen mache. Deswegen ist besondere Vorsicht vonnöten.
Lukas scheint offen und extrovertiert zu sein und ist dreizehn Jahre trocken. Allerdings siebzehn Jahre älter als ich, was soll’s. Ich fahre ohnehin immer auf Ältere ab. Aber ich will ja nichts von ihm. Meine Therapeutin würde eventuell eine potentielle Vaterfigur für mich vermuten.
Eine Viertelstunde vor dem verabredeten Zeitpunkt klingelt es an meiner Wohnungstür. Glücklicherweise stehe ich schon gestylt und ausgehbereit in meiner frisch aufgeräumten und geputzten Wohnung.
Die vier Stockwerke eilt Lukas flugs hoch, trotz Fahrstuhl. Fit scheint er zu sein, er schnauft noch nicht mal ansatzweise. Pluspunkt. Er ist ja auch sehr schlank. Hoffentlich hat er keine Essstörung?
Zaghaft drücke ich ihn zur Begrüßung, dann zeige ich kurz mein eigenes Reich. Er findet es schön. Besonders das große schmiedeeiserne Sofa mit dem dunkelroten Samtstoff und den goldglänzenden Messingkugeln hat es ihm angetan. Mir gefällt meine Wohnung, die ich mit viel Liebe zum Detail eingerichtet habe. Anscheinend mag er sie auch.
Angespannt fahren wir nach Lieblos zum Tanzlokal. Lukas überspielt seine Unsicherheit mit permanentem Erzählen und ich füge ab und an ein zustimmendes Gebrumme ein.
Das kann ja heiter werden. Bei dem Mann komme ich wohl nie zu Wort.
Er wirkt überaus hektisch und aufgedreht. Ich befürchte, dass er mir nicht richtig zuhört. Wenn ich denn mal was sagen könnte.
Aber es geht ja ohnehin nur um das Tanzen.
Seine Bekannten sind schon an einem kleinen runden Tisch versammelt und beobachten genauestens unser Ankommen. Möglichst freundlich begrüße ich die Runde und werde höflich aufgenommen. Die Gespräche gehen um Banalitäten. Wie soll es auch anders sein, durch die laute Musik muss sowieso geschrieen werden.
Die Tanzfläche ist noch leer, keiner traut sich anzufangen. Mir wird das wilde Durcheinanderreden und der hektische Lukas einfach zuviel. Hoffentlich geht es hier bald richtig los, tanzen will ich und mich von all dem distanzieren.
Während Lukas die weibliche Bedienung überschwänglich begrüßt, dann einer älteren Frau mit dicker Schminke um den perlenbesetzten Hals fällt, sinkt meine Stimmung auf den Nullpunkt.
Worauf habe ich mich hier eingelassen? Na ja, auch dieser Kelch wird an mir vorübergehen.
Tatsächlich scheint er sich unter den vielen Frauen wohl zu fühlen, sonst wäre ja wenigstens noch ein weiterer Mann dabei.
Maxi hätte doch mitkommen können.
Lukas behandelt uns alle gleich: Unverbindlich, freundlich, wie ein Hahn im Korb.
Aber ich werde ihm nicht auch noch schnell ein schmeichelndes Ei legen. Vielmehr fühle ich mich wie ein hilfloses halbes Hähnchen auf dem heißen Grill.
Innerlich gebe ich ihn auf und fühle mich schlagartig besser. Wieso soll ich mein Wohlbefinden von der Aufmerksamkeit eines Mannes abhängig machen? Ich bin zum Tanzen hier. Basta.
Gelassen spaziere ich als Erste auf die große Tanzfläche und genieße die anerkennenden Blicke der Umstehenden. Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und kann mich so verhalten, wie ich es ohne Begleitung auch tun würde. Mir macht es nichts, aus alleine zu tanzen. Im Gegenteil, da habe ich wenigstens Platz.
Fast hätte ich mein Verhalten wieder von einem Kerl abhängig gemacht. Selina, du lernst es wohl nie.
Während ich mich selbstvergessen der Musik hingebe, blühe ich innerlich wieder total auf und fühle mich so stark wie schon lange nicht mehr.
Das Leben ist ein Fest und ich bin mittendrin. Wunderbar.
Einer der Umstehenden löst sich von der Starre und eilt zu mir auf die Tanzfläche, um mich eindeutig und sehr eng anzutanzen. Genervt will ich mich abwenden, doch dann überlege ich es mir anders. Lass ihn doch.
Doch Einer lässt ihn nicht: Lukas Berger.
Anscheinend hat er mich als seine weitere Damenbegleitung doch im Blickfeld. Besitzergreifend stürmt er regelrecht auf den Parkettboden und drängt den armen Rivalen rigoros ab, indem er sich frech zwischen uns quetscht und dem Tänzer seinen Rücken zeigt. Dieser verschwindet recht schnell, um sich wieder in der zuschauenden Masse einzureihen.
Meine Freundin Elena würde in Bezug auf Lukas Verhalten jetzt feststellen: Das ist mal ein Mann, der ans Tischbein pinkelt und sein
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