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Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Die leere Wiege: Roman (German Edition)

Titel: Die leere Wiege: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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ich spürte, wie wenig er wog. Sein Mündchen suchte, fand meinen Arm und begann ganz leicht daran zu saugen.
    »Ich glaube, er hat Hunger«, sagte die Schwester und zog mir einen Stuhl heran. Ich setzte mich und wusste, ich hatte keine andere Wahl. »Sie sind an die Saugnäpfe gewöhnt«, erklärte sie. »Das Stillen wird sich zuerst ein wenig fremd anfühlen.«
    So selbstverständlich wie alle, die täglich mit den Körpern anderer Menschen umgehen, schob sie meinen Kittel hoch. Meine Brüste waren schwer vor Milch und von Venen durchzogen.
    Emma beobachtete mich, und ich wünschte, sie würde sich abwenden. »Ich gebe Luke die Flasche«, teilte sie mir mit. »Deshalb weiß ich jetzt gar nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«
    Joel bewegte den Kopf suchend hin und her, mit offenem Mund, wie ein Vogelküken. Die Schwester zerrte an mir und versuchte, mich richtig hinzusetzen. Emma drückte Luke an sich und verfolgte das Geschehen aufmerksam. Meine Brüste wurden befingert und zurechtgerückt – und mit einem Mal war mir alles zu viel. Ich schaffte es nicht.
    »Lassen Sie mich los!«, rief ich aufgebracht und stieß die Schwester fort. Sie fuhr zurück, als hätte ich sie geschlagen.
    Emma verlagerte Luke und legte einen Arm um mich. »Das ist doch kein Problem, Rose. Ich habe den Bogen auch nicht rausgekriegt.«
    Deine Geliebte tröstete mich. So weit war es schon gekommen. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe?
    Danach kehrte Stille ein. Emma half mir, Joel die Flasche zu geben. Über meinen kurzen Wutausbruch verlor sie kein Wort. Die Schwester verzog sich wieder an ihren Schreibtisch und machte weiter Eintragungen. Dann war ihre Schicht zu Ende, und sie huschte wortlos davon. Emma und ich saßen zusammen, bis die Besuchszeit begann und Dominic erscheinen würde. An den Gedanken, nach Hause zu gehen, hatte sie sich inzwischen gewöhnt.
    »Dominic wird sich darüber freuen. Er hatte ja noch gar keine Gelegenheit, Luke kennenzulernen. Er wird sich Zeit nehmen und mir helfen.« Sie zog eine kleine Kosmetiktasche hervor. »Könnten Sie Luke bitte kurz halten, während ich zur Toilette gehe? Ich schminke mir nur rasch die Lippen.«
    Ich blieb mit den beiden Säuglingen zurück.
    Bisher hatte ich Luke noch nie aus der Nähe betrachtet. Er hatte graue Augen, sein Teint war rosig und gesund. Ich streifte ihm das blaue Mützchen ab und entdeckte feines blondes Haar. Es war gelockt. Rotgoldene kleine Locken. Noch einmal studierte ich sein Gesicht, und mir war, als entdeckte ich vertraute Züge darin.
    Verstohlen schaute ich mich um. Die Schwester stand im Flur und unterhielt sich mit einer anderen. Ich stand auf und legte Luke neben Joel in dessen Bettchen.
    Die beiden hätten Brüder sein können. Luke der kräftigere, gesunde ältere von ihnen. Ich hatte den Mickerling geboren.
    Joel war kleiner, doch er hatte die gleiche Gesichtsform wie Luke. Auch die mandelförmigen Augen ähnelten sich sehr. Und dann noch das wunderschöne rotgoldene Haar der beiden. Wie konnte mir das entgangen sein? Luke und Joel hatten beide dein Gesicht, Jason.
    Ich hob Luke wieder aus Joels Bettchen. Lukes Mutter war eine Hure und sein Vater ein Schwächling, doch dafür konnte der Junge nichts. Ich war so wütend auf dich, dass mein Gesicht brannte und mir das Blut in den Adern kochte. Es war nicht gerecht. Emma hatte dir einen nahezu perfekten Sohn geschenkt, während ich den kranken, blassen geboren hatte. Es war so verkehrt und unfair, dass ich spürte, wie Hass mein Herz erfüllte. Rita und Mum hatten mich vor dir gewarnt und mir geraten, dich zu verlassen. Sie hatten alles vorhergesehen und gewusst, dass ich nach der Geburt meines Kindes leiden würde.
    Die neue Schwester kam, setzte sich an den Schreibtisch und beobachtete mich argwöhnisch. Offenbar hatte ihre Vorgängerin ihr von meinem Wutanfall erzählt.
    Ich beugte mich über Joel, betrachtete mein Baby und lächelte ihm zu. Seine Augen waren starr. Er fixierte mich . Ich bewegte mich und stellte fest, dass sein Blick mir nicht folgte. Seine Haut wirkte wächsern, und ich streichelte ihn, bis ich entsetzt spürte, dass er sich kühler als sonst anfühlte. Ich zwickte ihn in den Arm. Als er nicht reagierte, legte ich den Kopf an seine Brust. Nichts regte sich.
    Panisch ließ ich Luke in ein leeres Bettchen fallen, packte Joel und schüttelte ihn. »Joel!«, rief ich. »Joel!«
    Im Nu war die Schwester bei mir, legte meinen Jungen zurück und führte ihr Ohr an seine Brust.

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