Die Legende
Wochenende oder Ferienbeginn sein, ich wusste es nicht genau. Irgendwie hatte ich durch die Ereignisse jegliches Zeitgefühl verloren; jedenfalls hielten die Leute auf dem Weg an die Ostsee zwischendurch bei uns an, um sich mit Süßigkeiten oder Sprit zu versorgen. Das bedeutete wohl auch, dass heute das Kürbisfest stattfinden würde, das Leif vor ein paar Tagen so heiß bei Karen angepriesen hatte. Doch als ich am Abend nach Hause fuhr und bei Wellers vorbeikam, war dort nichts los. Das Karussell drehte leer seine Runden, die Kürbisse standen und lagen einsam herum, nicht einmal der Alkohol wurde getrunken. Die Mullendorfer hatten offenbar erst einmal genug von Partys und Festen. Nur eine Gestalt stand in der Ecke und betrachtete interessiert ein paar ausgehöhlte Kürbisse. Ich kannte ihn gut.
»Hallo Kurt«, begrüßte ich ihn.
»Hey Moona, cooles Fest, allerdings nicht viel los.«
»Den Leuten ist das Feiern wohl vergangen.«
»Versteh ich nicht. Feiern kann man doch immer.«
»Pedro ist tot, meine Schwester wird gefangen gehalten und viele haben sich verletzt. Da kann man schon die Lust auf Party verlieren.«
»Pedro hatte einen Unfall, habe ich gehört. Deiner Schwester geht es gut. Und wenn die anderen zu doof sind, geordnet das Gelände zu verlassen, ist das ihre Schuld.«
Mich interessierte nur ein Detail. »Meiner Schwester geht es gut? Woher weißt du das?«
»Ich war im Haus. Mann«, seine Augen begannen schwärmerisch zu strahlen. »Was für ein Schloss! Ich habe es bisher immer nur von außen gesehen und dachte schon, da muss ein Prinz drin wohnen, aber von innen ist es echt geil. Todschick! Dort würde ich auch gerne ...«
Ich unterbrach seinen Redeschwall. »Was ist denn jetzt mit meiner Schwester?«
»Ach ja. Es geht ihr gut, habe ich doch gesagt. Sie war die ganze Zeit in ihrem Zimmer, ich habe sie nur kurz gesehen. Sie sah verheult aus, das steht ihr nicht so gut. Aber sonst ist alles gut. Alles noch dran, wenn du verstehst, was ich meine.« Er lachte kurz.
Das beruhigte mich ein wenig. »Und wieso warst du da?«
»Ich arbeite jetzt für Philipp. Ich darf ihn Philipp nennen, hat er gesagt.« Er legte ein ernstes Gesicht auf, um auf seine Wichtigkeit hinzuweisen. »Er will uns befreien, damit wir nicht länger verfolgt werden und uns verstecken müssen. Er ist unser Erlöser.«
Kurt redete, als hätte er schon Jahrzehnte im Untergrund leben müssen. Dabei war er so frisch in der Vampirszene wie ein neugeborener Welpe im Haus seines Herrchens.
»Hat er auch gesagt, wie er das anstellen will?« Ich musste meine Quelle nutzen, um Informationen zu sammeln.
»Nein, so weit bin ich noch nicht, dass er mir das anvertraut. Das bespricht er nur mit seinen engsten Leuten. Aber bald gehöre ich auch dazu. Dann bin ich endlich von diesem langweiligen Leif weg, der nur von Katastrophen spricht, wenn man mal ein bisschen Spaß haben will. Ich muss jedoch zuerst eine Prüfung ablegen.«
»Was für eine Prüfung?« Eine Prüfung bei Kurts IQ konnte nicht gut ausgehen.
»Ich muss mich von etwas trennen, was mir lieb und teuer war, dann werde ich aufgenommen.«
»Das klingt nicht so schlimm«, erwiderte ich. Das könnte er schaffen. Autos waren ihm lieb und teuer, davon würde er sicher eins einbüßen können, er war ja jetzt in der Lage, sich in Vampirgeschwindigkeit zu bewegen. Dann war da noch seine ansehnliche Pornosammlung, von der er sicher auch den einen oder anderen Film entbehren konnte.
»Ja, das denke ich auch. Heute Nacht noch werde ich mich davon trennen, dann kann ich bei Philipp mitmachen.«
»Ich hoffe, wir treffen uns dann wieder und können uns unterhalten«, sagte ich in der Hoffnung, ihn als Informanten benutzen zu können.
Er nickte. »Ganz sicher. Du hast uns immer unterstützt, daher wirst du es sicherlich gut haben, wenn wir an der Macht sind. Ich werde es auf jeden Fall nicht vergessen, was du für Leif und Robert getan hast.«
»Gern geschehen.«
Seine Worte gefielen mir überhaupt nicht. Aber ich erwiderte nichts darauf, sondern verabschiedete mich von ihm und ging heim.
Zu Hause angekommen erwartete mich eine Überraschung: Meine Ex-Beste-Freundin Viviane saß mit meiner Mutter im Wohnzimmer.
»Hallo, wie schön, dass du hier bist!«, rief ich ihr sofort entgegen, als ich sie sah. Ich hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen, weil ich ihre Anwesenheit als Zeichen der Versöhnung deutete. Doch ihre Begrüßung war eisiger, als ich es gehofft
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