Die Legende
Wir können es nur versuchen.«
»Denkt daran, was geschah, als Serbitar es versuchte«, mahnte Rek. »Ihr alle könntet in das … was auch immer … geschleudert werden. Was dann?«
»Wir sterben«, antwortete Vintar leise.
»Und du sagst, es ist meine Entscheidung?«
»Ja«, sagte Vintar, »denn die Regel der Dreißig ist einfach: Wir haben uns in den Dienst des Herrn von Delnoch gestellt. Du bist dieser Herr.«
Rek schwieg ein paar Minuten; sein müdes Hirn wurde von der Schwere dieser Entscheidung betäubt. Er merkte, daß er an all die anderen Sorgen dachte, die ihn in seinem Leben bedrückt hatten und die ihm so wichtig erschienen waren. Aber er hatte nie vor einer Entscheidung wie dieser gestanden. Seine Gedanken umwölkten sich vor Müdigkeit, und er konnte sich nicht konzentrieren.
»Tut es!« sagte er. »Durchbrecht die Barriere!« Er erhob sich und entfernte sich vom Feuer, beschämt, daß man einen solchen Befehl von ihm erzwang, zu einer Zeit, da er nicht klar denken konnte.
Virae kam zu ihm und legte ihm einen Arm um die Taille. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Was?«
»Was ich gesagt habe, als du mir von dem Brief erzählt hast.«
»Es spielt keine Rolle. Warum solltest du auch gut von mir denken?«
»Weil du ein Mann bist und wie einer handelst«, sagte sie. »Jetzt bist du dran.«
»Ich?«
»Dich zu entschuldigen, du Idiot! Du hast mich geschlagen!«
Er zog sie an sich, hob sie hoch und küßte sie.
»Das war keine Entschuldigung«, sagte sie. »Außerdem kratzen deine Stoppeln.«
»Wenn ich mich entschuldige, darf ich dann noch mal?«
»Mich schlagen?«
»Nein, dich küssen!«
In der Senke bildeten die Dreißig einen Kreis um das Feuer, zogen ihre Schwerter und stießen sie zu ihren Füßen in die Erde.
Die Vereinigung begann. Ihre Geister flossen und strömten Vintar zu. Er hieß jeden in den Hallen seines Unterbewußtseins mit Namen willkommen.
Und sie verschmolzen. Die vereinte Macht erschütterte Vintar, und er mußte kämpfen, um die Erinnerung an sich selbst zu behalten. Er stieg empor wie ein geisterhafter Riese, ein neues Wesen von unglaublicher Macht. Das winzige Ding, das Vintar war, klammerte sich im Innern des neuen Kolosses fest und zwang die vereinte Essenz der neunundzwanzig Persönlichkeiten nieder.
Jetzt gab es nur noch eine.
Sie nannte sich selbst Tempel und wurde unter den Sternen von Delnoch geboren.
Tempel reckte sich hoch in die Wolken, streckte ätherische Arme über die Felsen von Delnoch.
Jubilierend stieg er empor. Seine Augen tranken den Anblick des Universums. Lachen wallte in ihm auf. Vintar taumelte und trieb sich tiefer in sein Innerstes.
Schließlich wurde Tempel des Abtes gewahr, mehr wie eines winzigen Gedankens, der am Rande seiner neuen Realität kauerte.
»Dros Delnoch. Nach Westen.«
Tempel flog nach Westen, hoch über die Berge. Unter ihm lag schweigend die Festung, grau und geisterhaft im Mondlicht. Er sank darauf zu und spürte die Barriere.
Barriere?
Für ihn?
Er schlug dagegen – und wurde in die Nacht geschleudert, zornig und verletzt. Seine Augen funkelten, und er lernte Wut kennen: Die Barriere hatte ihm Schmerzen zugefügt.
Wieder und wieder warf Tempel sich gegen die Dros und teilte Schläge von furchtbarer Kraft aus. Die Barriere erzitterte und veränderte sich.
Tempel zog sich verwirrt zurück und beobachtete.
Die Barriere brach in sich selbst zusammen wie wirbelnder Nebel und formte sich neu. Dann verdunkelte sie sich zu einem dichten Strahl, schwärzer als die Nacht. Arme erschienen, Beine bildeten sich und ein gehörnter Kopf mit sieben schrägstehenden roten Augen. Tempel hatte in seinen wenigen Lebensminuten schon viel gelernt.
Freude, Freiheit und Wissen um das Leben waren zuerst dagewesen. Dann Schmerz und Wut.
Jetzt kannte er Furcht und lernte das Wissen um das Böse.
Sein Feind flog auf ihn zu; gekrümmte schwarze Fänge zerrissen den Himmel. Tempel griff mit dem Kopf voran an und schlang ihm die Arme um den Rücken. Scharfe Zähne rissen an seinem Gesicht; die Klauen zerfetzten ihm die Schultern. Seine eigenen Riesenfäuste schlossen sich um das Rückgrat des Wesens und versuchten, es zu zerquetschen.
Unter ihnen, auf Musif, Mauer Zwei, nahmen dreitausend Mann ihre Stellung ein. Trotz aller Argumente hatte Druss sich geweigert, Mauer Eins kampflos aufzugeben, und wartete dort mit sechstausend Mann. Orrin hatte getobt, es sei reine Dummheit, die Breite der Mauer mache eine Verteidigung unmöglich.
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