Die Legende
an die Brustwehr hinter ihnen genagelt und wurde an den vorderen Ecken von Speeren gestützt. Darunter drängten sich die Männer zusammen. Sie hatten gesehen, wie Antaheim allein durch den Regen ging, und einer von ihnen, Cul Rabil, hatte ihn trotz der Warnungen seiner Kameraden herangerufen. Jetzt herrschte unter der Zeltplane eine ungemütliche Atmosphäre.
»Könnt ihr es?« fragte Rabil noch einmal.
»Nein«, erwiderte Antaheim, nahm den Helm ab und löste den Knoten, mit dem er sein langes Haar für den Kampf zusammengebunden hatte. Er lächelte. »Wir sind keine Magier. Nur Männer wie du – wie wir alle. Unsere Ausbildung ist anders, das ist alles.«
»Aber ihr könnt miteinander sprechen, ohne zu reden«, sagte ein anderer. »Das ist doch nicht natürlich.«
»Für mich schon.«
»Könnt ihr in die Zukunft sehen?« fragte ein dünner Krieger und schlug dabei das Zeichen des Schützenden Horns unter seinem Mantel.
»Es gibt viele Zukünfte. Ich kann einige davon sehen, aber ich weiß nicht, welche eintreffen wird.«
»Wie kann es viele Zukünfte geben?« fragte Rabil.
»Es ist nicht leicht zu erklären, aber ich will es versuchen. Morgen schießt ein Bogenschütze einen Pfeil ab. Wenn der Wind nachläßt, wird er den einen Mann treffen, wenn er auffrischt, einen anderen. Deswegen hängt die Zukunft dieser beiden Männer vom Wind ab. Ich kann nicht vorhersagen, woher der Wind weht, denn das hängt von zu vielen Dingen ab. Ich kann ins Morgen blicken und sehe beide Männer sterben, obwohl nur einer tatsächlich sterben wird.«
»Worin liegt dann der Sinn eurer Gabe?« fragte Rabil.
»Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich habe viele Jahre darüber nachgedacht.«
»Werden wir morgen sterben?« fragte ein anderer.
»Wie könnte ich das sagen?« entgegnete Antaheim. »Aber alle Menschen müssen irgendwann sterben. Das Geschenk des Lebens ist nicht von Dauer.«
»Du sagst ›Geschenk‹«, sagte Rabil. »Das schließt aber doch einen Schenkenden ein.«
»So ist es.«
»Welchen Göttern folgt ihr dann?«
»Wir folgen der Quelle aller Dinge. Wie fühlt ihr euch nach der heutigen Schlacht?«
»In welcher Hinsicht?« fragte Rabil und wickelte seinen Mantel fester um sich.
»Welche Gefühle hattet ihr, als die Nadir zurückwichen?«
»Schwer zu beschreiben.« Er zuckte die Achseln. »Erfüllt von Macht. Glücklich, am Leben zu sein.« Die anderen nickten zustimmend.
»Jubilierend?« schlug Antaheim vor.
»Ich glaube schon. Warum fragst du?«
Antaheim lächelte. »Das hier ist Eldibar, Mauer Eins. Wißt ihr, was ›Eldibar‹ bedeutet?«
»Ist es nicht einfach nur ein Wort?«
»Nein, weit mehr als das. Egel, der diese Festung erbaut hat, ließ in jede Mauer Namen einmeißeln. ›Eldibar‹ bedeutet ›Jubel‹. Hier begegnet man dem Feind zum erstenmal. Hier sieht man, daß auch er nur ein Mensch ist. Macht durchströmt die Adern der Verteidiger. Der Feind zieht sich vor der Wucht unserer Schwerter und der Stärke unserer Arme zurück. Wir fühlen den Kitzel der Schlacht und den Ruf unseres Erbes, wie Helden es tun sollten. Wir jubeln! Egel kannte die Herzen der Menschen. Ich frage mich, ob er wohl auch die Zukunft kannte.«
»Was bedeuten die anderen Namen?«
Antaheim zuckte die Achseln. »Das erzähle ich euch ein andermal. Es bringt kein Glück, von Musif zu sprechen, während wir im Schatten Eldibars Schutz suchen.« Antaheim lehnte sich gegen die Mauer und schloß die Augen, lauschte dem Regen und dem heulenden Wind.
Musif! Die Mauer der Verzweiflung! Wenn die Stärke nicht gereicht hatte, um Eldibar zu halten, wie sollte man dann Musif halten! Wenn wir Eldibar nicht halten können, können wir auch Musif nicht halten. Furcht wird unseren Lebenswillen zerfressen. Viele unserer Freunde sind auf Eldibar gestorben, und noch einmal werden wir in unseren Gedanken die lachenden Gesichter sehen. Wir wollen nicht zu ihnen gehen. Musif ist die Probe.
Und wir werden nicht standhalten. Wir werden uns auf Kania zurückziehen müssen, die Mauer der Erneuerten Hoffnung. Wir sind nicht auf Musif gestorben, und Kania ist ein schmaler Kampfplatz. Und überhaupt, gibt es nicht noch drei weitere Mauern? Hier können die Nadir ihre Wurfgeschütze nicht mehr einsetzen. Das ist doch schon etwas, oder nicht? Jedenfalls, wir wußten doch immer, daß wir ein paar Mauern verlieren würden, nicht wahr?
Sumitos, die Mauer der Hoffnungslosigkeit, wird folgen. Wir sind müde, zu Tode erschöpft. Wir kämpfen nur
Weitere Kostenlose Bücher