Die Legende
Vintar. »Aber das Ende könnte schon nahe sein. Sag mir, Regnak, warum gehst du nach Delnoch?«
»Die Möglichkeit der Dummheit darf man nie ganz ausschließen«, erklärte Rek ohne Humor. »Jedenfalls, es könnte doch sein, daß wir nicht verlieren. Wir haben doch wenigstens eine kleine Chance, oder nicht?«
»Druss wird bald dort sein«, sagte Vintar. »Es hängt viel davon ab, wie er aufgenommen wird. Wenn es gut verläuft und wenn es uns gelingt, dort zu sein, solange die erste Mauer noch hält, müßten wir es schaffen, die Stärke der Verteidiger zu nutzen und für einen Monat gesichert Widerstand leisten zu können. Ich sehe allerdings nicht, wie nur zehntausend Mann länger aushalten könnten.«
»Wundweber könnte Verstärkung schicken«, warf Menahem ein.
»Vielleicht«, sagte Serbitar. »Aber unwahrscheinlich. Praktisch die ganze Armee befindet sich in Delnoch. Dreitausend Mann halten Dros Purdol und weitere tausend Corteswain.
Es war töricht von Abalayn, in den letzten Jahren die Armee abzubauen und Handelsvereinbarungen mit Ulric einzugehen. Das war reine Torheit. Wären es jetzt nicht die Nadir, die angreifen, so wäre es über kurz oder lang Vagria. Meinem Vater würde es gefallen, die Drenai zu demütigen. Davon hat er lange genug geträumt.«
»Dein Vater?« fragte Rek.
»Graf Drada von Dros Sergril. Wußtest du das nicht?« sagte Serbitar.
»Nein. Aber Sergril liegt nur hundertzwanzig Kilometer westlich von Delnoch. Er schickt doch bestimmt seine Männer, wenn er weiß, daß du dort bist?«
»Nein. Mein Vater und ich sind keine Freunde. Meine Gabe macht ihm angst. Wenn ich getötet werde, befindet er sich jedenfalls in Blutfehde mit Ulric. Das bedeutet, daß er mit seinen Truppen Wundweber unterstützen wird. Das könnte den Drenai helfen – aber nicht mehr Dros Delnoch.«
Menahem warf Zweige auf das Feuer und streckte seine dunklen Hände der Wärme entgegen. »Abalayn hat wenigstens eins richtig gemacht. Dieser lentrische Wundweber hat Qualitäten. Ein Krieger der alten Schule, hart, entschlossen und praktisch.«
»Es gibt Zeiten, Menahem«, lächelte Vintar, dem man nach dem scharfen Ritt sein Alter deutlich ansehen konnte, »da bezweifle ich, daß du dein Ziel erreichst. Krieger der alten Schule, also wirklich!«
Menahem grinste breit. »Ich kann einen Mann für seine Talente bewundern und gleichzeitig seine Prinzipien in Frage stellen.«
»Das kannst du in der Tat, mein Junge. Aber habe ich da nicht einen leisen Hauch von Empathie bemerkt?« fragte Vintar.
»Doch, Meister Abt. Aber nur einen Hauch, sei versichert.«
»Ich hoffe es, Menahem. Ich möchte dich nicht vor der REISE verlieren. Deine Seele muß sicher sein.«
Rek schauderte. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Und wenn er genauer darüber nachdachte, wollte er es auch lieber nicht wissen.
Die erste Verteidigungslinie von Dros Delnoch war die Mauer Eldibar, die sich schlangengleich fast vierhundert Meter über den Delnoch-Paß wand. Von Norden her gesehen war sie achtzehn Meter hoch, von Süden her jedoch nur anderthalb Meter. Sie war wie eine Riesenstufe aus dem Granit des Berges gehauen worden.
Cul Gilad saß auf der Brustwehr und schaute finster über die wenigen Bäume auf die Ebene im Norden. Seine Augen suchten den fernen Horizont nach den verräterischen Staubwolken ab, die die Invasion ankündigen würden. Aber nichts war zu sehen. Seine dunklen Augen wurden schmal, als er einen Adler am Morgenhimmel entdeckte. Gilad lächelte. »Flieg, großer goldener Vogel! Lebe!« rief er. Dann stand er auf und reckte sich. Seine Beine waren lang und schlank, seine Bewegungen fließend und elegant. Die neuen Armeeschuhe waren ihm eine halbe Nummer zu groß; er hatte sie mit Papier ausgestopft. Der Helm, ein sonderbares Ding aus Bronze und Silber, rutschte ihm über ein Auge. Fluchend warf er ihn zu Boden. Eines Tages würde er einen Schlachtgesang über die Wirksamkeit von Armeen schreiben, dachte er. Sein Magen knurrte, und er sah sich suchend nach seinem Freund Bregan um, der gegangen war, um ihre Vormittagsration zu holen: schwarzes Brot und Käse – was sonst. Endlose Wagenreihen mit Vorräten kamen jeden Tag in Delnoch an, doch die Vormittagsmahlzeit bestand unweigerlich aus Schwarzbrot und Käse. Er beschattete seine Augen und konnte gerade die rundliche Gestalt Bregans ausmachen, der mit zwei Tellern und einem Krug aus dem Kasino kam. Gilad lächelte. Der gutmütige Bregan. Bauer, Ehemann, Vater. All
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