Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
Sie hatten es tatsächlich gewagt, ihn vor das Tribunal zu zerren, ihn, den Großwesir. Houst stand nicht einmal auf, als die fünf Wesire des Tribunals in den Saal traten und gemächlich zu ihren Plätzen oben auf dem Podest schritten. Eigentlich müsste er sich jetzt selbst gegenübersitzen, normalerweise wäre er oberster Tribun. Soeben nahm Wesir Kolat den Platz ein, der Houst gebührte, ein prunkvoller, thronartiger Sessel in der Mitte. Houst selbst saß tief unten in einer Versenkung auf einem schäbigen kleinen Hocker. Die Perspektive war ungewohnt, er hatte nie geahnt, wie klein man sich dabei fühlte. Beschmutzter oder Besudelter nannte man jene Person auf diesem Hocker. Das Tribunal sollte ihm Gelegenheit geben, seinen Namen rein zu waschen. Doch die Machtverhältnisse waren schon in der Position manifestiert. Die Tribunen entschieden, der Beschmutzte war ihnen ausgeliefert. Wie konnten sich ehrbare Männer, Männer mit denen Houst teilweise befreundet war, gegen ihn stellen. Kirai hatte ein Tribunal verlangt, er hatte sein Tribunal bekommen. Die Wesire hatten Houst überstimmt, es gab lediglich eine Enthaltung. Natürlich nicht wegen Kirai – dessen Wort zählte nicht derart viel – doch hinter Kirai standen die Königin und sogar Nomos Mutter Lebell. Deren Einfluss konnten sich die Wesire nicht entziehen. Wie immer am Hof, ging es um Macht, um ein feines Gespinst aus kleinen Gefälligkeiten, Erpressungen, die eine oder andere alte Rechnung. Houst selbst spielte dieses Spiel meisterlich, er hatte es immerhin zum Großwesir geschafft, seinen Bruder zum König gemacht und lange genug überlebt, um diese Erfolge zu genießen. Er würde diese Position nicht einfach so aufgeben. Königin Isi wollte ihn aus dem Weg räumen, er schränkte ihre Macht ein. Dabei bediente sie sich dieses lächerlichen Lakaien Kirai. Ein übersteigerter Machtwille, gepaart mit einer gehörigen Portion Arroganz zeichneten diesen Mann aus, mehr nicht. Ihm fehlte eindeutig die Finesse, das Gespür für das richtige Wort zur richtigen Zeit. Wie er Lebell derart um den Finger wickeln konnte, verstand Houst nicht. Houst würde Kirai in seiner Faust zerquetschen wie eine lästige Laus.
„Hiermit eröffne ich das Tribunal gegen den Beschmutzten Houst“, begann Kolat, „Er hat sich besudelt mit der Entführung einer Beseelten, der Prinzessin Nomo. Dabei hat der Beschmutzte die Prinzessin nicht nur ihrer Freiheit beraubt, sondern – so die Anschuldigung – obendrein ihre Bedürfnisse nach standesgemäßer Unterbringung und Verpflegung missachtet, so dass sie verwahrloste, und sie gar mit körperlicher Gewalt misshandelt. Als erste Weisung, und in Anbetracht der Schwere der Verbrechen – aber unter Berücksichtigung des hohen Status des Beschmutzten – verhängt das Tribunal für den Beschmutzten Houst Hausarrest bis zum Ende des Tribunals. Möchtet Ihr zu den gegen Euch erhoben Vorwürfen etwas sagen?“
„Außer, dass sie allesamt lächerlich sind? Nein. Das ehrenwerte Tribunal wird sicher bald die Wahrheit erkennen“, antwortete Houst.
„Das hoffen wir alle. Kommen wir nun zu den Formalien des Tribunals. Die Tribunen betrauen den Beseelten Kirai mit der Untersuchung der Vorfälle. Er erhält für die Dauer des Tribunals den Titel des Inspektors und ist damit ermächtig, im Rahmen der geltenden Gesetze alle notwendigen Maßnahmen durchzuführen, die zur Klärung des Sachverhaltes führen können. Nehmt Ihr diese Wahl an?“, fragte Kolat.
Kirai erhob sich von seinem Stuhl und stieg langsam die Stufen der Treppe zum Podest hinauf. Oben angekommen drehte er sich zu den Zuschauern im Saal um, zog einen Dolch aus seinem Hosenbund und schnitt sich damit die Handfläche auf. In einer theatralischen Geste hob der die geballte Faust, Blut tropfte aus ihr vor ihm auf den Boden. Ein erschrockenes Raunen erhob sich im Saal.
„Mit meinem Blut und meinem Leben stehe ich für die Wahrheit. Ihr, und nur Ihr bin ich verpflichtet. Die Wahrheit steht über allem. Ich werde die Schuld beweisen oder sterben. Nichts und niemand steht mir im Weg. Der Vertrag sei besiegelt“, postulierte Kirai.
Kolat räusperte sich unsicher. Offenbar wusste er nicht so recht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Hinter ihm tuschelten die anderen Tribunen. Houst lachte plötzlich laut auf.
„Ha, Ihr wollt den Blutrichter mimen? Das hat es seit Generationen nicht mehr gegeben. Seid Ihr so erpicht darauf, Euer Leben zu verlieren?“, fragte
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