Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
er.
Tatsächlich waren Blutrichter aus der Mode gekommen. Sie standen über allem, für sie zählte weder Gesetz noch Status. Damit waren sie für die Dauer ihrer Aufgabe völlig frei in ihren Mitteln. Ihnen war Zugang zu allen Räumen – selbst der königlichen Schatzkammer – und allen Dokumenten zu gewähren, derer sie habhaft werden konnten. Niemand durfte sich ihrem Verhör entziehen. Diese allumfassende Macht erkauften sie sich aber mit einem hohen Risiko; Verloren sie das Tribunal, verloren sie auch ihr Leben.
„Begehrt Ihr wirklich das Recht des Blutrichters?“, fragte Kolat.
„Ja“, antwortete Kirai.
„So sei es denn“, sagte Kolat.
Die Hand immer noch zur Faust geballt stolzierte Kirai die Treppe wieder hinunter. Er hinterließ eine Spur aus kleinen roten Klecksen. Erst an seinem Platz zog er ein Tuch aus seiner Tasche und wickelte es fest um seine Hand. Der oberste Tribun Kolat wartete, bis sich der Saal einigermaßen beruhigt hatte.
„Beschmutzter, habt Ihr einen Wunsch, wer Eurer Leumund sein soll?“, fragte er dann.
Ein Leumund, natürlich. Den hatte Houst ganz vergessen in seiner Wut über dieses unsägliche Tribunal. Der beste Leumund, den er sich vorstellen konnte, war er selbst. Doch dies erlaubte das Gesetz nicht, der Beschmutzte durfte nicht für sich selbst sprechen. Houst brauchte also jemanden an seiner Seite. Jemanden, dem er zum einen Vertrauen konnte, der andererseits aber offen für Housts Instruktionen …
„Nun, anscheinend könnt oder wollt Ihr keinen Leumund benennen. Ich setze deshalb hiermit meinen Sohn und Euren Schüler …“, begann Kolat.
„Danke Vater. Ich nehme diese ehrenvolle Aufgabe mit Freuden an. Ich werde beweisen, dass die Vorwürfe gegen meinen Meister völlig absurd sind. Nicht umsonst hat er mich die Grundlagen der Rechtsprechung gelehrt. Somit bin ich mit allen Formalitäten eines Tribunals vertraut. Dieses Tribunal ist eine weitere Gelegenheit, mich auszuzeichnen. Meister Housts vorzügliche Ausbildung hat mich exzellent auf diese Aufgabe vorbereitet“, fiel Sleem seinem Vater ins Wort, während er aufstand und zu Houst watschelte.
„Ah Sleem, dein Angebot ehrt mich natürlich. Aber bist du nicht als einer der Zeugen des Inspektors… Entschuldigung, des Blutrichters vorgesehen? Etwas ungünstige Voraussetzungen für einen Leumund“, gab Houst zu bedenken.
„Aber mitnichten, Meister Houst. Damit ergeben sich geradezu famose neue Strategien für Eure Verteidigung. Schließlich kenne ich dann schon meine eigene Aussage und kann …“
Plötzlich wurde die Tür zum Saal aufgerissen. Eiligen Schrittes trat der König ein.
„Entschuldigt meine Verspätung“, rief er vom Eingang her.
Ein junger Beseelter gesellte sich zum König, während dieser zu dem für ihn reservierten Platz ging. Der Beseelte redete leise auf den König ein, deutete dabei auf Kirai und Houst. Offensichtlich informierte er den König über die bisherigen Ereignisse. Der Platz des Königs befand sich gegenüber dem Tribunal auf einem beinahe ebenso hohen Podest. Rechts daneben saß Nomo, links Königin Isi. Um die kleine Treppe zu erreichen, die zum Podest führte, musste der König erst einmal den gesamten Saal durchschreiten. Der junge Beseelte begleitete ihn und sprach weiter leise auf ihn ein. Die restlichen Anwesenden warteten mehr oder minder geduldig. Der oberste Tribun Kolat klopfte mit seinen Fingern auf seine Armlehne, Kirai wickelte scheinbar gelangweilt das Tuch von seiner Hand und inspizierte seine Wunde und Sleem folgte – den Mund offen – jedem Schritt des Königs. Auf der ersten Stufe zum Podest angekommen, änderte der König plötzlich seine Richtung, ließ seinen Begleiter einfach stehen und ging zielstrebig auf Houst zu.
„Ich werde als Leumund für meinen Bruder sprechen“, sagte er laut.
Im Saal entstand erneut eine gewisse Unruhe. Kirai hob erstaunt die Augenbrauen, Königin Isi schüttelte leicht den Kopf und Nomo klatschte einmal freudig in die Hände. Sicher, der König hatte schon an dem einen oder anderen Tribunal teilgenommen, vor allem, wenn es gegen hochstehende Beseelte ging. Aktiv eingegriffen hatte er bisher jedoch nie.
„Mein König, Seid Ihr sicher? Dem Beschmutzten wird die Entführung Eurer eigenen Tochter zur Last gelegt. Ist es nicht in Eurem Interesse, dass er seine gerechte Strafe erhält?“, fragte Kolat.
„Oh natürlich, der Schuldige soll seine Strafe erhalten. Ich bin aber davon überzeugt, dass mein Bruder nicht
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