Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
Saal ab, Nomo fand er aber nicht. Einige der Besucher folgten Sleems Blicken. Hier und da wurde es unruhig im Saal.
„…die Prinzessin liegt mir persönlich am Herzen und diese schändliche Entführung muss aufgeklärt werden“, sprach Sleem nach einem Moment weiter.
„Gut Sleem, dann erzählt doch dem Tribunal, was an jenem Tag vorgefallen ist“, ermunterte ihn Kirai.
„Wie immer war ich an dem besagten Tag sehr früh auf den Beinen. Die Liste meiner Aufgaben ist derart lang, dass ich mir kaum Müßiggang erlauben kann. Dies ist das Schicksal jener, deren Fähigkeiten allseits geschätzt werden. Irgendwie hatte ich schon kurz nach dem Aufstehen das Gefühl, dass etwas Wichtiges passieren würde. Mein Instinkt sollte mich nicht trügen. Es zeichnete sich bereits bei der Morgengymnastik ab, die ich in nie zuvor erlebter Leichtigkeit absolvierte…“, begann Sleem zu erzählen.
„Sleem, beschränke dich auf die wesentlichen Punkte! Dieses Tribunal hat – wie du – vielfältige Aufgaben und nicht den ganzen Tag Zeit“, mahnte der Vorsitzende Kolat seinen Sohn.
„Natürlich Vater, ich fasse mich so kurz wie möglich. Du selbst hast mich die stringente Redekunst gelehrt. Also, um die Zeit des Tribunals nicht unnötig in Anspruch zu nehmen, mache ich in meiner Schilderung einen größeren Sprung. Ich hoffe, das Tribunal und alle Anwesenden können meinen Ausführungen trotzdem noch einigermaßen Folgen, auch wenn vielleicht wichtige Details verloren gehen mögen…“
Kolat räusperte sich und sah seinen Sohn mit finster zusammengezogenen Augenbrauen an. Sleem zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern, soweit dies sein kurzer Hals überhaupt zuließ. Dann sprach er mit einem Zittern in der Stimme weiter.
„…nun, also gegen Mittag machte ich mich auf zu meinem Meister, dem Großwesir Houst. Er erwartete mich bereits. Er führte mich in sein Arbeitszimmer, schickte seinen Diener davon und verschloss die Tür. Dies konnte nur bedeuten, dass mich mein Meister in einer äußerst wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte, ein Geheimnis, das am besten vor den Augen und Ohren anderer verborgen bleiben sollte. Meister Houst hat mich mehrfach gebeten, Stillschweigen in dieser Sache zu bewahren. Nur die besonderen Umstände dieses Tribunals zwingen mich nun dazu, dieses Geheimnis Preis zu geben. Es ging um eine Frau, eine gute Freundin, wie mir mein Meister versicherte, die seiner – und nun auch meiner – Hilfe bedurfte. Da sie sehr plötzlich aus ihrem Zuhause herausgerissen wurde, fehlte ihr adäquate Kleidung. Diese Kleidung sollte ich für Meister Houst besorgen. Dabei sollte ich mir die Prinzessin Nomo vorstellen, um die richtige Größe zu wählen. Was den Kleiderstil anbelangt, so vertraute mein Meister hier auf meinen ausgezeichneten Geschmack in Modefragen. Die Kleider sollte ich selbst in die Stadt bringen. Natürlich habe ich gleich darauf geschlossen, dass es sich bei der besagten Freundin nur um die kürzlich entführte Prinzessin selbst handeln konnte, ein amouröses Abenteuer hätte – gerade bei Meister Houst – keiner derartigen Geheimniskrämerei bedurft. Aber ich war meinem Meister verpflichtet und hatte versprochen, die Angelegenheit mit größter Diskretion zu erledigen. Lediglich einigen Vertrauten habe ich mit vagen Andeutungen das Ziel meines Ausflugs in die Stadt angegeben. Eine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht. Natürlich schmiedete ich bereits Pläne, wie ich die Prinzessin aus ihrer Gefangenschaft befreien würde. Als ich am Haus in der Stadt ankam, hatte der Beseelte Kirai die Prinzessin aber bereits den schmutzigen Klauen ihrer Entführer entrissen. Eine großartige Leistung, die mir allen Respekt abnötigt“, führte Sleem aus.
„Wie das Tribunal und jeder hier im Saal vernommen hat, war die Prinzessin also nicht zufällig in jenem Haus in der Stadt, so wie es der Beschmutzte behauptet hat. Sie wurde vielmehr dort festgehalten und zwar von ihrem eigenen Onkel“, fasste Kirai noch einmal zusammen und zeigte dabei mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Houst.
Der Saal wurde unruhig, die Anwesenden tuschelten aufgeregt miteinander. Betont langsam und gelassen erhob sich der König und trat vor das Tribunal. Dort wartete er, bis sich die Stimmung im Saal wieder beruhigt hatte, bevor anfing zu sprechen.
„Dieses Missverständnis kann ich leicht aufklären“, begann er, „Es ziemt sich zwar eigentlich nicht, das Privatleben meines Bruders und dessen – vom Zeugen
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