Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
reichen. Nomo schwang sich über das Geländer und ließ sich am Seil hinuntergleiten. Leider war es kürzer als sie gehofft hatte. Selbst als sie sich nur noch mit den Händen am letzten Zipfel festhielt, baumelten ihre Füße noch mehr als einen Meter über dem Boden. Als sich Nomo fallen ließ, landete sie in einem Wacholderbusch. Einige zerquetschte Beeren hinterließen dunkle Flecken auf ihrem Mantel. Sie kroch aus dem Gestrüpp und blickte sich nach allen Seiten um. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Dann prüfte sie noch einmal den gefälschten Brief mit dem Siegel ihres Vaters in ihrer Tasche und machte sich auf zum Kerker. Einen direkten Befehl des Königs würde die Wache nicht ignorieren, sie mussten Nomo heute zu Kex vorlassen. Zumindest hoffte Nomo das. Ihre Fingerspitzen kribbelten, ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, irgendwie unangenehm und doch auch aufregend. Bei der Vorstellung, wie die Wache den Brief ungläubig lesen und sie dann zähneknirschend vorbeilassen würde, musste Nomo kichern. Sie hatte den Brief selbst verfasst, dabei die Handschrift ihres Vaters – so gut es ihr möglich war – imitiert. Ein gutes Dutzend ihrer Entwürfe war in den Kamin gewandert, bevor sie sich zufrieden gab. So viel Mühe durfte einfach nicht umsonst sein. Je näher sie dem Eingang des Kerkers kam, desto unsicherer wurde ihr Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt und einfach davongelaufen. Sie kämpfte gegen diesen Impuls an. Auf der ersten Stufe der Treppe, die hinunterführte in das lichtlose Kellerlabyrinth, drehte sie sich noch einmal um. Ein Diener – in der Hand ein paar Kleider – hastete unweit vorbei, ansonsten war niemand zu sehen. Ziemlich ungewöhnlich, so wenige Menschen waren sonst auch in diesem Teil des Palastviertels nicht unterwegs. Aber bald würde eine neue Sitzung des Tribunals beginnen, vielleicht hatten sich alle schon zum Saal aufgemacht. Nomo stieg die Treppe hinab. Früher – so hatte ihr Onkel Houst erzählt – hatte es neben der Treppe noch eine breite Rampe gegeben. Die hatte die Beseelten aber zuschütten lassen, als sie den Keller zum Kerker ausbauten. Auf halben Weg blieb Nomo stehen und lauschte. Normalerweise hörte man die Wachen bereits oben, weit vor dem Kerker. Einige spielten und krakelten immer. Heute war der Keller still. Unten angekommen entdeckte Nomo den Grund dafür. Im dem kleinen Raum neben dem Eingang lag eine Wache am Boden, eine andere saß noch halb auf ihrem Schemel, der Kopf lag auf dem Tisch. Hervorgequollene Augen glotzten Nomo entgegen. Beide Wachen waren tot. Auf dem Tisch lagen Würfel, ein Krug mit Wein stand daneben, ein Becher war umgekippt. Wein tropfte von der Kante des Tisches auf den Betonboden. Einen Moment schaute Nomo unschlüssig den langen Gang hinunter, dort regte sich nichts außer einer Maus, die am Rand entlang huschte. Dann nahm sich Nomo den Schlüsselbund, der ebenfalls auf dem Tisch lag. Versehentlich stieß sie dabei mit dem Fuß gegen den Schemel. Der Schemel rutschte zur Seite, kippte um und die tote Wache sackte auf den Boden. Erschrocken sprang Nomo einige Schritte zurück. Ihr Herz raste. Als es wieder ruhiger schlug, ging Nomo den Gang entlang. Der Gang wurde von weiteren Gängen gekreuzt, die ihrerseits von noch anderen Gängen gekreuzt wurden. Es gab das Gerücht, man bräuchte die Zellen gar nicht verschließen, da sich jeder Gefangene, der versucht, aus diesem Labyrinth herauszufinden, verlaufen und jämmerlich verhungern würde. Darüber konnte Nomo nur lachen. Sie hatte bei Onkel Houst einmal einen Grundriss des Kellers gesehen, wie ein Labyrinth sah der nicht aus. Die Beseelten hatten den Kerker einst in eine Ruine der Alten gebaut. Die meisten Gänge waren kerzengerade, rechts und links befanden sich versetzt die Zellen. Der ganze Komplex bildete in etwa ein Quadrat, an der südlichen Seite befand sich der Eingang. Im Westen war noch ein größerer Raum. Dort soll sich eine Art Balkon befinden, unter dem ein tiefer, schwarzer Schlund gähnt. Getötete oder verstorbene Gefangene werden einfach über die Balustrade hinuntergeworfen. In den Gängen wechselten Mauern aus Lehmziegeln mit Wänden oder eingemauerten Pfeilern aus Beton. Vorsichtig blickte Nomo um jede Ecke. War der Gang leer rief sie leise „Kex“. Niemand antwortete. Als sie in den großen Raum im Westen kam, fand Nomo eine weitere Leiche. Wie bei den beiden anderen konnte Nomo keine Wunden und auch kein Blut entdecken. Nomo
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