Die Legende der Alten: Teil 2: Wiederkehr (German Edition)
schaute gebannt auf den Verdammten und die Kugel in seiner Hand. Als sich der erste Staub – getrieben vom Wind – aus der Kugel erhob, konnte sie ein staunendes „Oh“ nicht unterdrücken. Die Luft glitzerte in der Sonne, feine Strukturen bildeten sich, wuchsen in alle Richtungen. Ein fragiles, dreidimensionales Netz, durchflutet vom Sonnenlicht, je nach Blickwinkel in verschiedenen Farben schillernd. Faszinierend und wunderschön. Für einen Augenblick vergaß Nomo die vielen Menschen, die Hochzeit, Kirai. Sie streckte ihre Hand nach oben, berührte das Netz mit den Fingerspitzen. Es kribbelte leicht. Erschrocken zuckte Nomo zurück, jedoch nur kurz. Und als hätte die Struktur nur auf diese Berührung gewartet, wanderten dünne Fäden an Nomos Fingern entlang. Sie wurden zahlreicher, verbanden sich, trennten sich wieder auf, flossen über Nomos Arm, die Schulter bis hin zum Gesicht. Kühl und leicht wie eine zarte Berührung krochen sie dahin. Ein Schauer lief Nomo über den Rücken, ihre Muskeln krampften sich einen Augenblick zusammen, zitterten. Nomo kicherte, als die Fäden ihr schließlich in Mund und Nase krochen. Es kitzelte, schmeckte und roch leicht nach Metall. Nicht aufdringlich, eher angenehm. Ein paar sehr dünne Fäden zauberten ein feines Muster auf ihre Augen. Die Bilder vervielfältigten sich, wie beim Blick in einen zerbrochenen Spiegel. Sie musste zwinkern und bedauerte, damit das Muster hinweg gewischt zu haben. In ihren Schläfen pulsierte das Blut, wohlige Wärme zog in ihren Nacken. Ein Mix der verschiedensten Gefühle stürmte in kurzen Schüben auf sie ein. Glück, Zufriedenheit, Neugier, Erstaunen, Furcht, Ärger, Panik, Trauer, Bedauern, Wut, tiefe Trauer. Sie begann zu weinen. Mit den Tränen verschwamm die Wirklichkeit, wurde abgelöst durch Bilder in ihrem Kopf. Eine Erinnerung, doch nicht die ihre. Nomo ließ sich treiben, folgte den Bildern.
Ein fremder Ort, Räume so glatt und sauber, fremde Menschen in langen weißen Gewändern. Sie rannten vor etwas davon.
„Komm, wir müssen raus hier“, rief ihr jemand zu.
Sie zögerte, drehte sich um. Maschinen der Alten rasten auf sie zu. Maschinen die sich bewegten, das hatte sie noch nie gesehen. Oder doch? Es schien so normal. Plötzlich ein Lichtblitz gefolgt von heftigem Schmerz. Sie schrie auf, wollte wegrennen. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Wo war sie, wer war sie? Sie erinnerte sich nicht mehr. Alles was blieb, war dieser entsetzliche Schmerz.
***
Kex blieb stehen und kniff die Augen leicht zusammen. Soeben kam er auf der anderen Seite des großen Tores zum Palastbezirk an. Was veranstaltete Zemal da? Hatte Nomo ihn zu diesem Hokuspokus überredet? Von hier hinten sah er die Ereignisse auf der Bühne denkbar schlecht. Er zwängte sich an schimpfenden Stadtbewohnern vorbei nach vorn. Als sich die ersten Strukturen aus dem Staub bildeten, verstärkte Kex seine Anstrengungen noch einmal. Normaler Staub webte keine Netze. Was hatte dieser Zemal vor? Kex traute ihm nicht, mochte ihn nicht. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Verdammten auf dem Markt anzusprechen. Seltsame Leute, allesamt. Kex war froh, sie nicht mehr bei sich zu haben. Doch noch schien er aus der Sache nicht raus, das verriet ihm das Grummeln in seinem Magen. Während die meisten staunend gen Himmel blickten, sich nach den dünnen Fäden reckten, duckte sich Kex darunter hinweg. Besser kein Risiko eingehen. Die Aufgabe erwies sich schwieriger als gedacht. Der Staub suchte die Menschen regelrecht, wurde von ihnen angezogen. Ganz verhindern konnte Kex Berührungen nicht, zu groß war das Gedränge, seine Bewegungsfreiheit damit eingeschränkt. Ein Kind wischte ihm eben einen der Fäden vom Ärmel. Stolz zeigte es die Beute seiner Mutter. Die nahm davon keine Notiz, war selbst bereits komplett im Netz eingesponnen. Kex kroch nun beinahe auf allen vieren, hoffte, dass er dabei nicht die Richtung verlor. In dem Moment, in dem die ersten laut aufschrien, erreichte er die vorderen Reihen. Das seltsame Netz löste sich hier bereits wieder auf, verschwand in den Körpern der Menschen. War das nicht Nomos Stimme unter den Schreien? Kex kletterte die Stützbalken hinauf, schwang sich über die Kante auf die Bühne. Einige Beseelte rannten in Panik umher, zwei Wachen marschierten mit gesenkter Lanze auf Zemal zu, erstarrten aber, bevor sie ihn erreichten. Nomo lag unweit zusammengerollt am Boden, die Augen weit aufgerissen. Tränen rannen über ihr
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