Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
meint Ihr das?
»Ich meine, wenn es so viel Eis und Schnee gibt, dass die Leute in der Stadt eingeschlossen sind. Bis dahin dauert es nicht mehr lange. Ihr habt doch vor, all diese Jahre über in Villjamur zu bleiben, oder? Was werdet Ihr dort tun?«
Dass die Tore geschlossen sind, heißt ja nicht, dass ich nicht fliegen darf. Ich kann der Armee und dem Kaiserreich weiterhin dienen. Ihr scheint mir heute recht philosophisch gestimmt, Kommandeur.
»Der Tod des Kaisers dürfte die Stadt verändern. Womöglich sollte auch ich über eine Veränderung nachdenken.«
Vielleicht habt Ihr Euch in Villjamur nie wirklich zugehörig gefühlt. Ich hatte immer den Eindruck, dass Ihr Eurer Hautfarbe wegen gehemmt seid.
Brynd schaute weg, damit der Vogelmann aufhörte. »Nun, wenn das so ist, habe ich die falsche Laufbahn gewählt.« Ihm war nicht klar gewesen, dass Garudas so scharfe Beobachter waren. »Ich werde einfach alt«, lachte er. »Vielleicht denke ich inzwischen zu viel über mich nach.«
Dann wäret Ihr so wie alle anderen Eurer Gattung.
»Kommt, lasst uns etwas essen.«
Kanzler Urtica schritt durchs Arsenal, als gehörte es ihm – nur der Temperaturunterschied hätte ihn beim Eintreten fast aufgehalten. Reihen schweißnasser Männer arbeiteten an den Werkbänken. Sie sahen auf, um den Eindringling zu mustern, und das Weiß ihrer Augen stand in grellem Kontrast zu ihrer dreckverschmierten Haut. Weiter hinten bullerte ein riesiger Ofen und verbreitete einen schwindelerregenden Geruch. Überall war zu hören, wie Metall mit dem Schmiedehammer in Form gebracht wurde.
»Kann ich Euch helfen, Kanzler?«, fragte ein kleiner, kräftiger Blonder in schwarzer, kurzärmliger Tunika und schwarzer Kniehose, dessen schweißglänzende Arme aufgrund der ständigen Nähe zum Feuer unbehaart waren. Er war Leiter der Stadtverteidigung von Villjamur; ein abgedankter Soldat, der die Schmiede noch immer arbeiten ließ, als hätten sie Kampfbefehlen zu gehorchen.
»Das könnt Ihr allerdings, Fentuk, mein guter Freund«, erwiderte Urtica und lächelte die übrigen Arbeiter an, die skeptisch zurückschauten. »Kommt bitte mit nach draußen, damit uns niemand hört.«
»Das klingt wichtig«, brummte Fentuk.
Der Kanzler führte Fentuk aus dem Gebäude und über eine rußige Brücke in der Nähe, von der man direkt auf die Dächer Villjamurs sah.
Es wurde langsam dunkel, und der Himmel war karneol. Das aus vielen Fenstern fallende Laternenlicht erinnerte an das Sternenzelt. Die Zwillingsmonde Bohr und Astrid standen sich am Himmel gegenüber und schienen die Türme und Brücken in ein ätherisches Licht zu tauchen. Unten wurde ein Pferd eine schwach beleuchtete Straße entlanggeführt, und die Hufe klapperten auf dem Pflaster. Ein magischer Blitz zuckte. Eine Tür öffnete und schloss sich, und dazwischen war Frauengeplapper zu hören. Lautenspiel drang aus einer nahen Taverne, und ein Sänger, der nie die Töne traf, begleitete die trostlose Melodie.
Es war eine dieser vollkommenen Nächte von Villjamur.
»Also, Kanzler Urtica, weswegen habt Ihr mich hierher geführt?«
»Um Gewissheit zu erlangen.« Urtica lehnte sich ans Brückengeländer. Der Wind fuhr in seinen Umhang und ließ den Kanzler frösteln. »Heutzutage weiß man nie, wer mithört.«
»Mithört?«
»Mithört.« Urtica zog den Pfeil hervor. »Ich muss dringend wissen, woher der kommt.«
Fentuk nahm den Pfeil und besah ihn sich. »Schwer zu sagen bei diesem Licht.« Er rollte ihn zwischen den Fingern und hielt ihn mal so, mal anders. »Na ja, aus Jamur ist er nicht«, fuhr er fort. »Nicht von einer Insel im Westen oder Süden. Ich schätze, er kommt aus Varltung, aber sicher bin ich mir nicht. Er ist von sehr schlechter Qualität, wisst Ihr, und könnte auch aus Maour, Dockull oder sogar Hulrr stammen.« Er schürzte die schmalen Lippen. »Warum? Wo habt Ihr ihn her?«
Urtica schnalzte. »Er stammt aus der Leiche eines Nachtgardisten. Der Kommandeur vermutet, es habe sich um einen Hinterhalt der Varltung gehandelt. Ich hatte gehofft, Ihr würdet dies bestätigen, denn das würde das Anliegen derer, die einen Feldzug vor der Winterstarre befürworten, unterstützen.«
»Oh, tja, ich … Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass dieser Pfeil aus Varltung ist, nein.«
»Seid Ihr Euch gewiss , nicht sicher sein zu können? Wir müssen gegen Varltung zurückschlagen, bevor es zu spät ist.« Zur Bekräftigung seiner Worte ließ der Kanzler seine Hände in einer
Weitere Kostenlose Bücher