Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Jungen riss und er sich in eine Unmenge kleinster, an Farbe gemahnender Fleisch- und Knochenstücke auflöste. Der Kultist hatte sich rasch genug geduckt und seinen rußfarbenen Umhang vors Gesicht geschlagen und spürte nun die Reste des Kindes wie eine Welle erst gegen sich, dann auf das Pflaster ringsum klatschen.
Er richtete sich auf und betrachtete die Bescherung. Rings um das Relikt – ein schimmerndes Stück Metall, das unbefleckt und heil auf dem Boden lag – war überall Blut. Von dem Jungen waren nur ein paar Bruchstücke übrig; hier ein vereinzelter Knochen, dort ein Schädelsplitter. Wenigstens war Dartuns Umhang so schwarz, dass die Flecken kaum darauf zu sehen waren.
Mit einem Sprengzünder ausgestattet – so was hab ich lange nicht mehr gesehen.
»Sie werden es nie lernen«, sagte er, hob das Relikt auf, schob es in die Tasche und ging seiner Wege.
Zwei Abende zuvor waren seine Beine so steif gewesen wie nie.
Vier Tage zuvor hatte er sich die Hand aufgeschürft und geblutet.
Eine Stunde lang hatte er die Verletzung betrachtet und überlegt, warum das geschah, hatte über die schmaler werdende Linie zwischen Leben und Tod gegrübelt.
Nicht sterben zu können, bedeutet, gar nicht erst am Leben zu sein. Und nun lassen die Relikte mich langsam im Stich.
Dartun wiederholte dieses Mantra wieder und wieder und zwang sich, daran zu glauben. In einem abgedunkelten Zimmer am Sitz seines Ordens der Tagundnachtgleiche starrte er auf das Relikt, das er dem Jungen abgenommen hatte. Wie üblich war es gegen die Benutzung durch Laien gesichert, und wie man es handhabte, wussten nur die vielen Kultisten, die diese Inseln besuchten. Wer sich die Benutzung als Nichteingeweihter anmaßte, wurde vergiftet oder verletzte sich beim Hantieren mit dem unvertrauten Gegenstand, wobei die Glücklicheren nur den Arm verloren. Andere Relikte brachten das Herz durch Energieblitze zum Stillstand, und aus wieder anderen strömte giftiges Gas. Das Los der unbefugten Nutzer war nie angenehm, doch so war gewährleistet, dass die Geheimnisse der Kultisten auch geheim blieben. So war es seit Jahrzehntausenden.
Er hob das Gerät in einen Lichtstrahl, der durch die Holzlamellen des Fensterladens drang. Dieses neue Relikt war eine Art Wend , das den Alten auf Reisen gedient hatte. Auch wenn es ihm nicht helfen würde, seine Unsterblichkeit zurückzugewinnen, war er stets erfreut, ein neues Relikt zu entdecken, egal, welche Kräfte es besaß. Das hier war ein besonders großartiges Gerät, dessen Inneres – das war fast immer gewiss – aus einer anderen Zeit stammte, obwohl das Gehäuse aus gängigem Silber war. Womöglich war das Gerät verändert worden. Es war rund, lag gut in der Hand, nahm den dünnen Strahl Tageslicht auf und beschäftigte Dartun ungemein lange.
Er hielt sich für den fähigsten Kultisten der Welt und konnte Relikte nicht nur einsetzen, sondern auch verändern und aus den Wunderwerken der Alten eigene Geräte entwickeln. Er konnte sie kombinieren und verschiedene Technologien für seine Forschungszwecke manipulieren und hatte über seine ungewöhnlich lange Lebenspanne hinweg zahllose Notizen angefertigt, hatte Theorien entwickelt und erprobt und viele Wissenslücken zu füllen versucht. Er hatte die Grenzen des Bekannten ausgeweitet und dabei die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt. Doch etwas entzog sich ihm hartnäckig, und er wollte es dringender erreichen als je, da er sich seiner Sterblichkeit plötzlich bewusst geworden war.
Meine Welt wird nicht sang- und klanglos enden , überlegte er, sondern mit einem gewaltigen Knall.
Wieder hatte er heute über die Anzeichen seines Alterns nachgegrübelt.
Über die tieferen Falten im Gesicht.
Über die grauen Haare.
Die Schmerzen.
Die Schnitte und Hautabschürfungen.
All das war das Erbe der Sterblichen, Dinge, die er nicht gewohnt gewesen war. Wenn er eine dieser kleinen Verschlechterungen erkannte, verharrte er stets reglos, musterte sie beinahe eine Stunde lang und versuchte, seinen Tod zu akzeptieren. Das erfüllte fast sein gesamtes Denken. Für andere Gedanken schien kein Raum mehr zu sein.
Schließlich legte er das Relikt beiseite, trat an eines der vielen Regale und nahm ein Notizbuch herunter. Von einem anderen Regal zog er eine Landkarte aus einem großen Stapel. Dann zündete er drei Laternen an, stellte eine auf seinen Schreibtisch und machte sich an die Arbeit.
Im Vormonat hatte er zwei Tage lang Migräne gehabt – zum ersten Mal
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