Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
einen Jamún gekostet. Auch hatte er sich mit einer teuren Klinge rasiert. Daher strich der Wind ihm trotz der dicken Rumelhaut so kalt über die glatten Wangen, dass ihn fröstelte. Obwohl er es keinem Kollegen von der Inquisition gegenüber zugeben würde, hatte er sich das weiße Haar sogar mit Duftölen parfümiert.
Mag ich auch stinken wie der Schminktisch einer Hure – jede Kleinigkeit hilft.
Um nur nichts von Tuyas Ratschlägen zu vergessen, hatte er seine Notizen immer wieder gelesen und sich dabei an die Prüfungen erinnert gefühlt, die er als junger Mann beim Eintritt in die Inquisition abgelegt hatte.
Jeryd warf einen Blick auf den nahen Glockenturm. Sie würde ihn sicher warten lassen, wie sie es stets getan hatte. Er war so nervös, als wären sie erstmals verabredet. Es dunkelte rasch, und die hohen Gebäude hoben sich schwarz vom Himmel ab. Vögel und Pterodetten kreisten hypnotisierend über den zahllosen Turmspitzen. In den Straßen wurden die Laternen angezündet, und der Kalkstein warf ihr farbiges Licht zurück. Sandelholzduft stieg aus den Räuchergefäßen einer Taverne zum Himmel auf. Vielleicht wurde er langsam weich, doch er fand die Szenerie ziemlich romantisch.
Da war Marysa; da kam sie durch die Gasse geschlendert, um ihn zu treffen. Ihre Hüften wiegten sich langsam, während sie hügelan stieg, und sein Herz begann zu rasen. Als sie herantrat, fing sie seinen Blick auf und sah zu Boden. Für einen Moment schwiegen beide. Marysas elegante schwarze Robe war etwas dunkler als ihre Haut, und sie hatte einen bunten Schal um den Hals geschlungen. Ihr weißes Haar war mit etwas Funkelndem hochgebunden, wie es zweifellos Mode war, ohne dass er von diesem Trend etwas bemerkt hatte, und das farbige Make-up um die Augen gab ihrem Gesicht ganz neue Aspekte. Ihr Schwanz schwang eingerollt vor und zurück.
»Hallo«, schluckte Jeryd. »Du siehst unglaublich aus.«
»Danke«, sagte sie. »Und mir gefällt deine neue Robe.«
Wie lange hatte er diese wohltuende Stimme nicht mehr gehört! »Ach, das ist für dich«, zwang er sich zu sagen und gab ihr das Geschenk. »Nur eine Kleinigkeit, die dich vielleicht interessiert.« Um seine Ungeduld nur nicht zu verhehlen, drängte er: »Los, mach es auf!«
Sie packte es schweigend aus, und ihre Miene hellte sich auf. Das Geschenk mochte ein altes Seefahrtinstrument gewesen sein, war nur so groß wie die Spanne einer Hand und besaß einen komplizierten Mechanismus.
»Eine Antiquität«, sagte sie ehrfürchtig. »Sieht fast aus wie ein Relikt.«
Jeryd trat mit verschränkten Armen zurück und war mit sich zufrieden. »Herauszufinden, was das ist, dürfte dich ein paar Tage lang beschäftigen.«
»Das ist wirklich herrlich.« Sie küsste ihn auf die Wange. Diese Geste konnte alles heißen, und er bemühte sich, sie nicht im Sinne seiner Wunschvorstellungen zu deuten.
»Also gehen wir?«, schlug Jeryd vor und wies auf das nahe Bistro.
Nach anfänglicher großer Verlegenheit verlief der Abend besser, als er es sich hätte vorstellen können. Er hörte ihr erstmals seit Jahren wirklich zu. Ihr besonderes Interesse galt inzwischen, wie sich zeigte, der alten Architektur, zumal den neu entdeckten Resten des Azimuth-Reichs, die hier und da restauriert wurden. Sie erzählte ihm ausführlich von der alten Azimuth-Kultur – von den großen Chausseen, die nun unter Hügelflanken begraben, von den Palastrohbauten, die in Sümpfen versunken waren. Sie war mit Archäologen befreundet, die uralte Knochen gefunden hatten: Riesige Brustkörbe von Mastodons waren an der Küste ausgegraben worden, gewaltige Tintenfische, menschliche Skelette von enormer Größe, sogar unbekannte Tiere mit drei Schädeln. Schritt für Schritt vermittelte sie Jeryd eine bewegte Geschichte des Boreal-Archipels. Warum hatte er sie nie zuvor so faszinierend gefunden?
Leichte Berührungen am Handgelenk, ein Lächeln nach vielsagenden Worten, ein Blickwechsel durch die Kerzenflamme hindurch – all diese Kleinigkeiten waren so viel bedeutender und wirkmächtiger als früher, als hätte die Tatsache ihrer Trennung sie erkennen lassen, wie sehr sie gegenseitig ein Loch im Leben des anderen füllten.
Unvermeidlicherweise kamen sie auf das Scheitern ihrer Ehe zu sprechen, und Jeryd gab zu, ein schlechter Gatte gewesen zu sein. Daraufhin nannte sie ihm eine Reihe von Bedingungen für einen gemeinsamen Neuanfang.
Ihre Forderungen waren nicht unvernünftig, wie er zugab, und hatten alle mit Zeit
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