Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
auf.
Artemisia sah ihn finster an. »Der wird dir nicht viel nützen.«
»Rechnet Ihr mit einer großen Gefahr?«
»Das kann man sagen, Randur Estevu. Seit ich in diese elende Welt gekommen bin, sind mir gewisse Mächte auf der Spur. Wie ihnen das gelungen ist, weiß ich nicht.«
Was redet sie da: in diese Welt gekommen? , überlegte Randur. Er war sich nun gewiss, etwas zwischen den Bäumen flimmern zu sehen. Alles in ihm spannte sich. »Wer ist hinter Euch her?«
»Satyr«, flüsterte Artemisia. »Rührt euch nicht vom Fleck – eurer Sicherheit zuliebe.« Sie schlich zum Waldrand. Dort stand ein bärtiger Mann im Halbdunkel, der Tierbeine zu haben schien. Aus dem Schädel ragten ihm zwei Hörner, und seine kantigen Züge sahen aus, als lachte er.
Artemisia zückte eins ihrer mächtigen Schwerter und trat auf das Wesen zu, doch im Nu hatte es kehrtgemacht und floh krachend durch den Wald.
Sie kam zu den Seilen zurück und hatte es nun eilig. »Nur eine kleine Störung, aber sie bereitet mir Sorge. Er ist nicht hinter euch her, sondern hinter mir – darum müssen wir sofort das Feld räumen. Haltet euch daran fest!« Sie wies auf ein Seil. »Die Fasern werden sich an eure Haut heften. Ihr könnt also nicht abrutschen.«
»Erwartet Ihr etwa, dass wir daran hochgehen? Da oben weht sicher ein unerträglicher Wind. Es muss eine andere Möglichkeit geben, dorthin zu kommen, wohin wir nach Eurem Willen gelangen sollen. Habt Ihr keine bessere Idee?«
Artemisia funkelte ihn zornig an. »Warum?«, knurrte sie. »Habt ihr denn eine Wahl?«
»Ein berechtigter Einwand.« Randur zuckte die Achseln.
Denn tatsächlich blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. Knapp waren sie der Rückführung nach Villjamur entgangen, und das war deprimierend genug. Eine Mordmaschine war vom Himmel gefallen, hatte viele Soldaten auf einer Lichtung hingemetzelt und sich dann als diejenige erwiesen, die das Kommando übernahm. Eir schmiegte sich an Randur. Klopfenden Herzens langte er nach dem Seil. Seine Hand leuchtete beim Zugreifen schwach auf; ein Zeugnis der seltsamen Energie, die das Anhaften bewirkte. Eir folgte seinem Beispiel, und das Seil legte sich wie eine Schlinge um beider Füße. Ich will das nicht … wir haben keine Ahnung, was da oben ist.
»Hast du keine Angst?«, flüsterte er.
Eir warf ihm einen kühlen Blick zu. »Wir müssen nicht immer gleich alles fürchten, was wir nicht verstehen.«
»Kaiserin, Ihr solltet –«
»– mitkommen, natürlich.« Rika fügte sich, ergriff das zweite Seil, umschlang Artemisia mit dem anderen Arm und schloss die Faust um die Unterkante ihres Gewands.
Eir warf Randur einen fragenden Blick zu.
»Womöglich hält Rika sie für eine Göttin«, flüsterte er, und vielleicht war sie ja wirklich eine. Bisher hatte sie sich höchstens dafür interessiert, regelmäßig ihre Jorsalir-Gebete zu murmeln. Wie ironisch, dass sie stets geseufzt hatte: »Ach, warum geht es nicht ohne all das Morden?«, sich nun aber zufrieden an eine Tötungsmaschine von zwei Metern zehn Scheitelhöhe schmiegte!
Binnen Sekunden wurden sie aufwärts gezogen.
Schon schwebten sie hoch über den Baumkronen und sahen den Wald immer kleiner werden. Die Lichtung war schneeweiß und blutrot gesprenkelt. Die Landschaft entfaltete sich immer majestätischer vor ihnen, und der Wind traf sie mit voller Wucht.
Die letzte Wolkenbank trieb über die Insel südwärts, und die waldige Landschaft mit ihren Gipfeln, Bergrücken und Hochebenen lag ungewöhnlicherweise in von Dunst verschleiertem Sonnenlicht.
Bald wurde ihnen schwindlig, und Randur war mulmig zumute, obwohl er wusste, dass seine Finger sicher am Seil hafteten und sie völlig ungefährdet waren. Eir dagegen blieb beim Aufstieg ganz gelassen, und das ärgerte ihn. »Alles in Ordnung?«, murmelte er.
»Na klar! Ein herrlicher Ausblick!«, gab sie zurück. »Deine Insel ist wirklich schön, Randur.«
Hinter ihm schwangen Artemisia und Rika so dicht aneinander, dass das Blut an der Kriegerin Rikas Gewand befleckte. Der Stoff und ihr Haar flatterten im Wind, doch sie selbst war reglos und sah Artemisia unverwandt an.
Von oben schoss etwas Dunkles so rasch herab, dass Randur es beinahe nicht bemerkt hätte. Artemisia stieß ein paar fremdartige Kehllaute aus, und das Etwas jagte wieder aufwärts und umkreiste sie in einiger Entfernung. Es hatte einen kleinen, pelzigen Leib, ein helleres Gesicht und geäderte Flugmembranen.
»Eir, ist das … äh, ein Affe mit
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