Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Gestalt mit abgezirkelten Schritten. Sag jetzt nichts Dummes, Rand! Jetzt nicht und niemals.
Ihr Retter blieb vor ihnen stehen, und nun erst sah Randur das Gesicht deutlich. Seine Haut wies die ins Purpurne spielende Farbe des Abendhimmels auf, und seine Augen waren pupillenlos, sodass sich schwer sagen ließ, wen er anschaute. Er wies auf die beiden Mädchen, und Eir stellte sich vor ihre Schwester.
»Ihr seid Erben des Hauses Jamur?«
Sie nickten.
»Gut. Ich habe viel zu lange gebraucht, euch nach eurer Flucht aus Villjamur aufzuspüren. Ich bin Artemisia, im Dienste der Truwisa.« Sie starrten ihn verständnislos an. »Das sagt euch nichts?«
Die Frauen schüttelten den Kopf, und Randur blickte wie gebannt auf das triefende Gewand des Fremden. Wo kein Blut es tränkte, schimmerte es silbern wie ein Kettenhemd, und doch handelte es sich offensichtlich um bestickten, an den Ärmeln zerfetzten Stoff. Am Kinn klaffte dem Mann eine Wunde, und Schrammen prangten an Wangen und Stirn, doch worum es sich auch handelte: Das Geschöpf schien keine Schmerzen zu spüren und sich inmitten des Gemetzels durchaus wohlzufühlen.
»Wenigstens ist es nicht mein Blut«, höhnte das Wesen, als es Randurs Blick bemerkte. »Und deins auch nicht.«
»Stimmt«, gab Randur zu. »Es ist bloß so … na ja, wir wissen nicht recht, was wir davon halten sollen, wenn ein Mann einfach vom Himmel fällt.«
»Ich bin eine Frau … und vielleicht ist es besser, wenn ihr erst mal gar nichts denkt. So, jetzt kommt weiter auf die Lichtung!«
»Vielleicht«, schlug Randur vor, »könnt Ihr uns zuerst helfen, diese Fesseln loszuwerden.« Das Geschöpf beugte sich vor und zerriss die Ketten mit leichter Hand.
»Sehr freundlich.« Randur staunte über so viel Kraft.
An abgehackten und zerschmetterten Gliedmaßen vorbei schritten sie über die Walstatt, eine Wiese des Todes. Rika brachte es nicht über sich, nach unten zu blicken.
»Seit Villjamur folge ich euch«, wiederholte Artemisia. »Eure Flucht hat meine Pläne gründlich durcheinandergebracht. Wärt ihr in eurer kleinen Stadt geblieben, wäre auch meine Aufgabe einfach geblieben. Stattdessen musste ich eurer Spur folgen. Das war nicht leicht.«
»Bedaure sehr, wenn wir Euch Ungelegenheiten bereitet haben … «, erwiderte Randur gekränkt. »Es ist nicht ganz unanstrengend, wenn man sich abstrampeln muss, um am Leben zu bleiben –«
»Du redest zu viel, Erdländer.«
»Es hat keinen Sinn, ihm den Mund zu verbieten«, murmelte Eir.
Randur ächzte. »Hört mal – wirklich nett, dass Ihr uns geholfen habt, äh, Artemisia? Aber … könnt Ihr uns das Ganze vielleicht erklären?«
»Ich stelle hier die Fragen, Randur Estevu – falls du diesen Namen noch immer führst.«
»Woher kennt Ihr meinen Namen? Und woher wusstet Ihr, dass die beiden zum Haus Jamur gehören?« Er wies mit dem Kopf auf die Schwestern.
»Ich wundere mich oft«, erwiderte Artemisia, »warum ihr Menschen so wenig wisst. Ich beschäftige ein Netz von Zuarbeitern und niedrigen Sendboten aus eurer Welt, selbst aus Villjamur – wenn sie auch nicht wissen, wem sie letztlich dienen.« Sie führte sie dorthin, wo sie zuerst aufgetaucht war, und blickte zum Himmel.
Randur trat neben sie und schaute ebenfalls hoch. »Ich sehe nichts.«
Plötzlich flackerte es, und knapp unterhalb den Wolken erschien ein massiger, dunkler Umriss. Die drei Menschen starrten sprachlos hinauf. Wie konnte etwas so Großes einfach schweben ?
Schließlich brach Eir das Schweigen. »Was … was ist das?«
» Exmachina «, brummte Artemisia. »Ein einstweiliges Zuhause.«
Eir sah Randur fragend an und zuckte dann die Achseln. Anscheinend war Rika der Riesin gegenüber voll Ehrfurcht, und das war bemerkenswert, denn sie war nicht leicht zu beeindrucken.
Randur betrachtete das sonderbare Objekt weiter. Es sah aus wie ein kleiner Mond und stach farblich vom Himmel ab. Beim Näherkommen nahm es die Gestalt eines dicken, unfassbar großen Langschiffs an. Oder die einer treibenden Insel. Seine Gegenwart war einschüchternd, und Randur bekam es mit der Angst zu tun.
Noch aus ziemlicher Höhe kam plötzlich etwas von oben herab und traf den Boden vor Artemisias Füßen. Dann folgte ein zweites Seil.
Mit einem Mal fuhr die große Frau herum: Etwas in der Ferne hatte sie aufgestört. Ohne den Kopf zu bewegen, hob sie Ruhe heischend die Hand. Randur glaubte, ganz schwach eine Flöte zu vernehmen, und hob einen im Gefecht verloren gegangenen Säbel
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