Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
war es ja der eigentliche Zweck der Inquisition, neue Akten hervorzubringen.
Ob er es überhaupt mit der Klugheit und den Fähigkeiten dieser Spinne aufnehmen konnte? Eines Wesens, das so anders war als er und schlimmste Kindheitsängste aufleben ließ? In der Inquisition schien nur ihm dieser Fall ein Anliegen zu sein. Er hatte mit ein, zwei Vorgesetzten über seinen Verdacht gesprochen, aber schon an deren Gesichtern gesehen, dass sie ihn nicht unterstützen würden. Und das war ihm recht, denn er war es gewohnt, sich das Gewicht der Welt auf die Schultern zu laden, ohne dafür ein Dankeschön zu hören. Doch sein Dasein machte das anstrengend. Ein Kollege hatte ihm freundlicherweise eine Flasche Whisky gekauft und gesagt, er arbeite zu lange und werde deren Gesellschaft bald wertzuschätzen wissen. Jeryd hatte das Geschenk aber ungeöffnet in der untersten Schreibtischlade gelassen, um nicht diesen gefährlichen Weg einzuschlagen.
Schließlich kam Marysa die Treppe herab und sprang wie in alten Zeiten ins Wohnzimmer. Ein Blinzeln, und sie hätten wieder Kinder sein können. Wo ist all die Zeit geblieben? Sie trug ihr klassisch geschnittenes grünes Kleid und dazu die Brosche, die er ihr vor fünfzig Jahren gekauft und auf einer Brücke in Villjamur zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Marysas weißes Haar war elegant zurückgebunden, und sie hatte sein Lieblingsparfüm aufgelegt.
»Sollen wir?« Er bot ihr seinen Arm.
Nanzi drückte sich auf dem Dach herum und sah die Leute gleichmäßigen Schritts gebückt und mit gesenktem Kopf im Schnee durch die Straßen trotten. Dichte Wolken hingen über der Stadt. Da Altmetalldiebe immer wieder Laternen stahlen, war es so dunkel, dass die in eine Spinne verwandelte Nanzi sich wohlfühlte. Der viele Schnee in den Regenrinnen behinderte ihre Sicht; deshalb schob sie ihn mit einem Bein beiseite, um die Szene ganz in den Blick zu bekommen.
Sie lauerte auf halbem Weg zwischen dem Theater und Jeryds Wohnung. Das auserkorene Opfer hatte ihr am Vormittag stolz verkündet, wohin es seine Frau abends überraschend ausführen werde, und der Spinne so die perfekte Gelegenheit geliefert, sich seiner zu entledigen.
Nanzi musterte jedes Paar genau und geduldig, um Jeryd nicht zu verpassen. In der Menge unten spürte sie Freude, Kummer, Aufregung, Unbehagen: ein Heer von Daseinszuständen, das als unterschiedliche Zusammensetzungen der Luft bei ihr ankam.
Da waren sie ja: Jeryd und Marysa. Arm in Arm kamen sie die Straße entlang. Er lächelte, und sie lachte über eine Bemerkung von ihm. Nachdem ein Kind ihn beinahe mit einem Schneeball getroffen hätte, formte Jeryd seinerseits ein Geschoss und pfefferte es zurück.
Um nicht entdeckt zu werden, zog Nanzi die Beine ein. Das Paar unten war ins Theater unterwegs. Sie folgte ihnen mit der Anmut einer Balletttänzerin über die Dächer und behielt sie ständig im Auge. Die Lichter der Stadt erwiesen sich als hypnotisch. Sie kamen als träge Wärmewellen bei ihr an, und die von den Ständen aufsteigenden Gerüche hingen bleischwer in der Luft. Sie aber blieb konzentriert, krabbelte über die Ziegel und würgte immer neue Seide hervor, um nicht abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen.
Die Straßen wurden immer belebter, da die Golem-Schau viele Leute anlockte.
Dann verlor die Spinne Jeryd und Marysa im Gedränge vor dem Eingang des alten Theaters. Ihre tierischen Instinkte ergriffen von ihr Besitz: Sie musste ihn finden und töten.
Schließlich schwang sie sich aufs Dach des Theaters und damit in eine fast schwindelnde Höhe. Dort krabbelte sie im peitschenden Wind herum und suchte nach losen Ziegeln, bis sie einige entfernen und ihren knollenförmigen Leib ins Gebäude zwängen konnte.
Und abwärts ging’s in die Dunkelheit.
Das Licht erlosch, und gemessener Applaus erklang.
Rechts in der drittletzten Reihe der mit rotem Plüsch bezogenen Sitze merkte Jeryd ein wenig auf, als ein Golemist in prächtigem weißem Hemd auf die Bühne trat. Sein Gesicht glich einem Sack Kartoffeln, und er lachte in sich hinein. Eine weiße Pterodette watschelte klein und dürr vor seinen Füßen herum.
Welche Erniedrigung für einen Kultisten, sich nur mit schlichter Unterhaltung befassen zu dürfen , dachte Jeryd. Ob die anderen ihn deswegen hänseln?
Der Mann warf der Menge Handküsse zu, und Marysa drückte aufgeregt Jeryds Hand. Das alles war etwas kitschig, und er wusste nicht, ob sie diese Vorstellungen aufrichtig liebte oder ironisch genoss,
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