Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
war nackt, und kaum hatte der Mann mit Zylinder das gesehen, zog er einen Ranzen mit Kleidung hervor. Rasch bedeckte sie ihre Blöße und schmiegte sich an ihn, und er legte schützend den Arm um sie.
Die Kultisten und Jeryd standen in ehrfürchtiger Stille da und betrachteten ihren Fang.
»Heute Abend haben wir zwei auf einen Streich erwischt. Schade, dass uns die Phonoi entkommen sind, aber auch für uns alte Kämpen ist das ein recht guter Fang«, verkündete Bellis und fügte stirnrunzelnd hinzu: »Jeryd, meint Ihr, die beiden kennen sich?«
»Möglich«, gab der Ermittler zurück, ohne die zwei aus den Augen zu lassen. »Aber könnt Ihr Euch vorstellen, dass dieses Mädchen eigentlich meine Gehilfin ist?«
Als sie tief in der Nacht ins Lazarett kamen, waren alle Ermittler, Gehilfen und sonstigen Mitarbeiter der im Nachbargebäude ansässigen Inquisition längst daheim, und Abaris und Ramon begannen ihre Ausrüstung zu »rejustieren« (was immer das hieß). Jeryd und Bellis betrachteten Nanzi und den Mann mit Zylinder. Nach der Verkleinerung des Käfigs hatten sie sie gezwungen, in ihrem Leuchtgefängnis unter dem Glotzen der Passanten durch die Gassen zu gehen. Jeryd brachte sie zur Quarantäne-Abteilung, da diese Missetäter ansteckende Krankheiten haben mochten.
Nachdem sie hinter Schloss und Riegel waren, entzündete er eine Wandfackel, und ihre Gesichter glühten sanft aus der Zimmerecke. Es war ausgesprochen kalt, und doch machte Jeryd kein Feuer für sie.
Eine Zeit lang beobachtete er sie bloß. Er hatte Fragen über Fragen. Doch wo sollte er beginnen?
»Was bist du für eine?«, fragte er schließlich.
Sie hatte den Kopf gesenkt, und ihre Haare verhüllten das Gesicht.
»Was hast du bloß angestellt? Du behauptest, ein ehrenhaftes Mädchen zu sein, und doch … und doch … «
Seufzend setzte Jeryd sich auf einen Hocker. Die Ereignisse des Abends hatten ihm alle Energie geraubt. Stets empfand er eine seltsame Leere, wenn er in einem schwierigen Fall die Täter gefasst hatte. Die Suche nach ihnen füllte ein Loch in seinem Leben, und wenn er sie verhaftet hatte, gähnte ihm das blanke Nichts entgegen. Er konzentrierte sich auf jeden einzelnen Verbrecher und hatte dessen sämtliche Aktivitäten im Kopf. »Warum hast du mich nicht umgebracht, Nanzi, als du die Gelegenheit dazu hattest?«
Sie sah kleinlaut zu ihm hoch und schien antworten zu wollen, doch der Mann flüsterte ihr etwas zu, und sofort blickte sie wieder auf den Boden.
»Ich denke«, meinte Bellis zu Jeryd, »Ihr habt sie mit wesentlichen Informationen versorgt. Hmm! Gibt es besondere Inquisitionssachen, zu denen nur Ihr Zugang habt?«
Nach kurzem Überlegen brummte der Ermittler: »Womöglich ging es um den Kommandeur. Sie hat mich mehrmals begleitet, als er mich auf den neuesten Stand der militärischen Lage brachte.« Hatte sie Details über die Patrouillen erfahren wollen? Hatten diese Kenntnisse ihre Mordpläne begünstigt? Oder wollte sie nur wissen, wann es klug war, aus der Stadt zu fliehen?
»Aber sie hat mich im Theater umbringen wollen … « All das ergab keinen Sinn. Vielleicht hatte sie … hatte dieses Ding ihn ja gemocht und ihn darum noch ein Weilchen am Leben gelassen? Jeryd wandte sich dem Mann mit Zylinder zu. Durchaus möglich, dass er ihr Tun kontrollierte. »Wie heißt Ihr?«
»Ich bin Doktor Voland«, antwortete er knapp und trat sehr würdig auf. Vielleicht würde Jeryd heute Abend doch noch ein paar Antworten bekommen.
Voland: Diesen Namen hatte auch Malum ihm genannt. Voland, der seltsame Gattungen erschuf und mit zweifelhaftem Fleisch handelte. Dazu würde Jeryd später kommen – zunächst das Wesentliche. »Ist Nanzi Eure Frau?«
»Sie ist meine Partnerin«, sagte Voland mit Nachdruck.
»Und deshalb wolltet Ihr sie retten, ja?«
Keine Antwort.
Nach kurzem Nachdenken stand Jeryd auf und trat an die Gitterstäbe, um ihn genauer zu mustern. Es handelte sich um einen distinguiert wirkenden Herrn, viel älter als Nanzi. Auch seine Kleidung war hervorragend geschneidert, und er hatte ein etwas überhebliches Auftreten. Zwar wirkte er momentan bedrückt, konnte in anderer Lage aber womöglich einen Raum allein durch seine Persönlichkeit elektrisieren.
»Was treibt Ihr in Villiren?«, wollte Jeryd wissen.
Keine Antwort.
»Warum seid Ihr heute Abend zum Dach gekommen?«
Keine Antwort.
»Was wisst Ihr über den Verkauf schlechten Fleisches?«
Bei dieser Frage blickte er auf, erwiderte aber
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