Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
bei dem unermüdlichen Drang nach Expansion und Machtkonzentration nicht ankam. Aber auch Lutto? Konnte Jeryd diese Verbindung überhaupt in der Inquisition ansprechen? Oder würden ihn die Schergen des Bürgermeisters dann zur Strecke bringen?
Er warf Nanzi, die noch immer mit unters Kinn gezogenen Knien wortlos am Boden kauerte, einen raschen Blick zu.
»Esst Ihr selbst, was Ihr schlachtet?«, fragte Jeryd.
»Aber nicht doch!«, lachte Voland. »Ich lebe strikt vegetarisch. Für mich hat alles Fleisch mit Töten zu tun.«
»Wie viele Bürger habt Ihr umgebracht?«, wollte Jeryd wissen. »Die Vermissten dieser Stadt – habt Ihr die alle auf dem Kerbholz?«
»Vielleicht«, erwiderte Voland ungerührt. »Aber ich bin mir recht sicher, dass einige aus anderen Gründen vermisst werden. Ich kann keine genaue Zahl nennen, da wir diese Arbeit schon seit einiger Zeit machen. Es würde mich nicht wundern, wenn es inzwischen einige Tausend Tote wären. Das war wirklich eine schmutzige Arbeit … «
Der Doktor schien seinen Handlungen ganz unbeteiligt gegenüberzustehen. Offenbar hatte er sich das Unmögliche und zutiefst Unmoralische seines Tuns so effektiv schöngeredet, dass er der Ansicht war, etwas Lobenswertes zu leisten.
»Ihr kranken Lumpenhunde«, rief Jeryd. »Ihr bereut nicht das Geringste von diesem Gemetzel, stimmt’s?«
»Warum sollte ich?«, fragte Voland. »Ich lasse Menschen überleben und sorge dafür, dass sie gesund genug sind, einen Krieg zu überstehen. Man muss stets das große Ganze im Blick behalten.«
In seinen vielen Jahrzehnten im Dienst der Inquisition war Jeryd nie einem Horror in derartig großem Stil begegnet. Tausende waren umgebracht worden und ihr Fleisch zum Verzehr gelangt: Villiren hatte sich unwissentlich in eine Stadt von Kannibalen verwandelt. Womöglich hatte auch er derlei Fleisch gegessen.
Er forderte Bellis mit einer Handbewegung auf, das Lichtgitter zwischen den Gefangenen zu deaktivieren. Nach kurzem Zögern begriffen die beiden, dass das Hindernis gefallen war, und umarmten sich vor aller Augen.
Nachdem Jeryd sich vergewissert hatte, dass die Zellentür abgesperrt war, ging er mit Bellis zu seinem Büro und war zunächst zu deprimiert, um mit ihr zu reden. In seinem Zimmer entzündete er den Kamin, und die beiden nahmen in Sesseln Platz und schwiegen nachdenklich.
Schließlich sagte Bellis: »Immerhin habt Ihr sie endlich geschnappt.«
Jeryd atmete tief aus. »Ich bin ein lausiger Ermittler – dieser Tatsache muss ich mich stellen.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ich habe viel zu lange gebraucht, um alle Teile des Puzzles zusammenzusetzen. Ich bin unfähig. Wie konnte mir entgehen, dass Nanzi in der Sache drinsteckt … « Jeryd schüttelte den Kopf. »Diese Ermittlung macht mir sehr zu schaffen, obwohl ich mir alle Mühe gebe. Womöglich bin ich zu alt. Vermutlich holt die Wirklichkeit einen letztlich ein.«
»Unsinn. Schluss mit dem elenden Selbstmitleid. Die Mörder sind gefangen – nur das zählt. Was habt Ihr nun mit den beiden Missgeburten vor?«
»Ich lasse ihre Wohnungen auf weitere Beweise hin durchsuchen. Wir haben schon Zeugen für Nanzis Gestaltwandel und das Geständnis der beiden. Es dürfte also ein klarer Fall sein, der zu ihrer Hinrichtung gemäß den Gesetzen des Kaiserreichs führt – sofern es uns gelingt, unsere Vorgesetzten zu überzeugen. Immerhin haben die beiden behauptet, auch der Bürgermeister sei an diesem Verbrechen beteiligt.«
Bellis nickte. »Das wissen wir allerdings nicht sicher, denn das haben nur die zwei gesagt.«
»Stimmt«, murmelte Jeryd. »Und danke, dass Ihr mich unterstützt. Immerhin habt Ihr es ermöglicht, sie so einfach zu verhaften, und Ihr habt mir geholfen, meine Ängste zu überwinden. Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, und mir ist klar, dass Ihr kaum etwas von Eurem Einsatz habt …«
»Kaum etwas davon haben?«, fragte Bellis. »Ihr seid tatsächlich dumm! Ich tue Dinge, weil ich sie tun will, und helfe anderen, weil ich nicht unausgesetzt an mich selber denke.«
»Deshalb seid Ihr in Villiren? Um anderen zu helfen?«
»Mehr oder weniger«, räumte sie hintersinnig ein.
»Ihr werdet mir Eure eigentlichen Beweggründe nie verraten, nicht wahr?«
»Vielleicht beim nächsten Tee.« Bellis lächelte ihn kühl an.
Da begriff Jeryd, dass das Debakel dieses Abends ihm mit Bellis wenigstens eine neue Freundin eingetragen hatte, und für so etwas war man nie zu alt.
»Und wie steht es mit Ramon und Abaris? Die
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