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Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Titel: Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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und verließ das Lager. Mit ihren Spinnenbeinen angelte sie sich Rock und Stiefel, ging runter ins Erdgeschoss, öffnete die Haustür, blickte auf die Straße und hoffte, dort etwas zu entdecken. Über den dunklen Bauten ringsum stand ein herrlicher Sternenhimmel, und einige Stadtstreicher drängten sich um eine kleine Feuertonne.
    Welches merkwürdige Empfinden hatte sie herausgelockt? Es war ein Durst. All ihre Gefühle hatten sich verdichtet: die Sehnsucht nach einem lange verlorenen Geliebten; die Trauer um einen toten Freund. Doch hier handelte es sich um etwas ganz Besonderes: Hier erging ein Ruf an ihren … anderen Zustand . Mächtige Bedürfnisse berauschten sie, und binnen einer Minute sank sie in sich zusammen, um sich in Spinnenform wieder zu entfalten.
    Mit einem Bein schloss sie die Tür und kroch über die Mauer aufs Dach des Schlachthauses. Dort konnte sie die Welt anders lesen und selbst zarteste Schwingungen dechiffrieren. Die Stadt schien ihr als Spinne stets bedrängend, doch sie spürte in der Ferne etwas so Verführerisches, Köstliches und Wichtiges, dass sie nicht anders konnte, als schnellstens durch die ausgestorbene Nachtlandschaft zu krabbeln.
    Jeryd beobachtete mit vor Staunen offenem Mund, wie Hunderte winzige Spinnen aus den Gebäuden ringsum angewimmelt kamen.
    Gewohnheitsmäßig spürte er den Drang, auf einen Stuhl oder Tisch zu steigen, um ihnen zu entgehen, doch hier auf dem Dach gab es diese Möglichkeit nicht. Und diesmal … empfand er keine Angst.
    Schwarze Spinnenströme bewegten sich auf das Relikt der Grauhaarigen zu, zahllose Rinnsale und Flüsse graziler Beine und bauchiger Körper. Bei einem Blick auf die Dächer rundum sah Jeryd die Tiere in rauen Mengen und von allen Seiten über die schiefergedeckten Bauten anrücken. Inzwischen hatte er sich ein Stück abseits gestellt, damit sie nicht in Scharen über ihn krabbelten, doch er fühlte sich nicht annähernd so gelähmt wie früher.
    Schon seine bloße Anwesenheit bei dieser überwirklichen Szene ließ Jeryds Nerven beben, denn er hatte den Eindruck, von allen Spinnen des Boreal-Archipels umzingelt zu werden. Geschöpfe aus toten Gegenden der Stadt sammelten sich an diesem Ort, doch er zitterte nicht und empfand nur einen Bruchteil der vertrauten Beklemmung. Die ganze Zeit aber hielt er nach dem einen Ungeheuer Ausschau und blickte besorgt ins Dunkel zwischen den Gebäuden und in die Winkel, in die kein Mondlicht fiel.
    Er zog ein Messer aus dem Stiefel, doch von welchem Nutzen könnte es im Kampf gegen das riesige Spinnenscheusal sein? Die Grauhaarigen dagegen wirkten ganz entspannt und fläzten sich. Bellis drehte sich bisweilen mit in die Hüften gestemmten Armen zu ihm um, und Jeryd nickte, um ihre unausgesprochene Frage, ob es ihm gut gehe, zu bejahen.
    Ramon saß an der Dachkante, während Abaris ein anderes Relikt in Betrieb zu nehmen schien. Offenbar befanden die drei sich oftmals in so verrückten Situationen.
    Plötzlich rief Bellis: »Ich glaube, sie kommt!«
    Jeryd eilte zu ihr und sah in die Richtung, in die sie zeigte. Ein paar Hundert Meter östlich war ein großer Umriss zu sehen, der sich in fließenden Bewegungen über die Dächer näherte und ab und an Seide hervorwürgte, um sich von einem Haus zum anderen zu schwingen.
    »Donnerwetter«, keuchte Jeryd. Theoretisch war er für diese Situation gewappnet, aber nun eilte das Wesen tatsächlich auf ihn zu, und er hatte keine Ahnung, wie er damit fertig werden sollte.
    »Donnerwetter«, bestätigte Abaris, der neben ihn getreten war.
    Sie sahen zu, wie das Tier näher kam und immer größer wurde. Leute, die aus den Fenstern schauten, schrien auf, und unten mieden die Passanten die Gassen, die die Spinne in luftiger Höhe kreuzte. Das Wesen wirkte fast betrunken und schien zu torkeln. Es war wirklich riesig, und jedes seiner Beine war vermutlich länger als Jeryd, und doch wuchtete es seinen Leib mit abgezirkelten Bewegungen auf die steinerne Brüstung des Dachs, auf dem Tausende kleine Artgenossen wimmelten.
    Mit seinen Facettenaugen musterte das Ungeheuer zögernd das schimmernde Relikt, konnte dessen Anziehung aber nicht widerstehen; eine von Hassliebe geprägte Spannung stellte sich zwischen Spinne und Relikt ein, doch das Tier konnte dem Zauber des magischen Gegenstands nichts entgegensetzen. Langsam näherte es sich, nahm den schwarzen, knolligen Kopf zurück und schob Brust und Bauch voran. Dann streckte es die Vorderbeine aus und erhob sich auf die

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