Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Schließlich musste er als neuer Ermittler aus Villjamur die Leute hier erst einmal beeindrucken.
Eine neue Stadt bedeutete schließlich einen Neuanfang.
Vor seiner Abreise aus Villjamur hatte er mit einigen vertrauenswürdigen Vorgesetzten der Inquisition gesprochen, um sofort per Schiff abkommandiert zu werden. Wegen des Packeises war das leider nicht infrage gekommen, und er hatte auf einem ungemein dummen und sturen Gaul reisen müssen. Während Marysas Pferd gesund geblieben war, hatte Jeryds Zosse auf halber Strecke längs der Küste zu lahmen begonnen, und Ersatz zu besorgen, hatte zwei Tage gedauert. Und dann hatte er es auch noch fertiggebracht, sich zu verirren.
Als Marysa und er sich endlich Villiren näherten, war Jeryd verständlicherweise stinksauer. Ein Großteil der Reise hatte durch die Tundra geführt, also durch verschneite und verharschte Prärie, an deren riesigem Himmel lang gezogene Vogelschreie zu hören gewesen waren; blutrot und rasant war die Sonne abends gesunken, und eiskalte Winde waren vom Meer mit boshafter Wucht angeweht gekommen. Schwere graue Wolken hatten sich bedrohlich getürmt, doch zum Glück hatte es keine Niederschläge gegeben – all das schien hier normal zu sein.
Doch nur indem er so hoch in den Norden reiste, konnte Jeryd sich gewiss sein, nicht seiner jüngsten Ermittlungen in Villjamur wegen beseitigt zu werden; überdies mangelte es der Inquisition in Villiren an guten Mitarbeitern.
Seine neue Behörde lag mitten in der Altstadt. Er staunte, wie nobel die Inquisition hier residierte, war aber zu zynisch, als dass er nicht angenommen hätte, die Ermittler würden ihren Lebensstil mit kleinen Erpressungen finanzieren. Sein Büro war eine schlichte steinerne Kammer mit Schreibtisch, ein paar Stühlen, Bank und Kamin. Auch war es mit einigen geschmackvoll auf einem Regal drapierten Büchern über das Rechtssystem des Kaiserreichs ausgestattet, in denen – wie er bei seiner Ankunft festgestellt hatte – kaum je geblättert worden war. Durch ein schmales Fenster war ganz nah die Oberkante eines der pompösen Onyxflügel zu sehen, der aufragte, als wäre ein urzeitliches Wesen beständig drauf und dran loszufliegen. Dahinter schneite es ununterbrochen aus grauem Himmel auf glatte Dächer.
Kaum hatte Jeryd sich gesetzt und seinen Hut auf den Schreibtisch gelegt, klopfte es. Die typische Störung! Aber vielleicht war es ja der Helfer, den Jeryd einige Tage zuvor erbeten hatte, um sich besser in der Stadt zurechtzufinden. Er musste sein Revier unbedingt persönlich kennenlernen. Zwar wusste er nicht, wie lange er hier festsäße, doch es schadete nicht, sich einzufügen. Wenn er ein paar Straßen säubern und so seine Vorgesetzten beeindrucken wollte, war es unerlässlich, Kenntnis über die Verhältnisse vor Ort zu gewinnen.
Mit einem enormen Seufzer erhob er sich, um zu öffnen.
Auf dem Gang stand eine junge Frau mit schwarzem, nach hinten gebundenem Haar, hoher Stirn, schmalem, bleichem Gesicht und dunklen Lippen. Sie schien nicht von den Inseln des Boreal-Archipels zu stammen und war höchstens dreißig Jahre alt. Ihre zierliche Gestalt steckte in einem braunen Mantel und einem schlichten, dicken Rock. Obwohl er als Rumel der weichen Menschenhaut wenig abgewinnen konnte, entging ihm nicht, dass sie hübsch war. Hinter ihr kam ein maskierter Ermittler den Flur entlanggeschlendert. Diese Masken waren Jeryd nicht geheuer.
»Sele von Jamur, Miss! Was kann ich für Euch tun?«
»Sele von Jamur, Ermittler!«, gab sie mit erstaunlich tiefer Stimme zurück. »Es geht eher darum, was ich für Euch tun kann. Ich bin Eure neue Helferin, Sir.«
Ein weiblicher Helfer bei der Inquisition? Jeryd mochte das kaum glauben. An ein ausdrückliches Verbot erinnerte er sich zwar nicht, doch seine Behörde war von jeher eine Männerdomäne gewesen. Nicht, dass er das Mindeste gegen weibliche Mitarbeiter gehabt hätte, doch in der Inquisition wurden die Dinge in aller Regel traditionsgemäß gehandhabt – im Guten wie im Schlechten.
»Solltet Ihr einen Mann erwartet haben, wundert mich Euer Erstaunen nicht, aber ich habe meine Aufgaben bisher stets gut erledigt. Es heißt, Ihr kommt aus Villjamur und seid ein erstklassiger, unbestechlicher Ermittler … und ich will von den Besten lernen.«
Solche Schmeichelei war von jungen oder naiven Menschen wohl zu erwarten. Sie ahnte ja nicht, wie realitätsfremd er sich fühlte und dass er die Mechanismen, nach denen die Welt funktionierte,
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