Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
widerlich und stärker denn je.
Zwei Augenpaare öffneten sich, und er taumelte zurück.
Im gleichen Moment griffen Nelum und die Wächter zum Schwert, doch Brynd mahnte sie, sich zurückzuhalten. Die Okun würden sich in dieser vollkommen neuen Umgebung – und zudem eingesperrt – sehr wahrscheinlich bedroht fühlen und mochten sich als gefährlich erweisen, wenn sie übertriebenem Druck ausgesetzt wurden.
Nelum beugte sich vor und fragte ernst: »Was denkt Ihr, Kommandeur?«
»Ich kann nur Vermutungen anstellen, genau wie Ihr«, gab Brynd zurück. »Auf jeden Fall leben die beiden, und das ist gut. Denn so können wir sie auf Schwachpunkte hin untersuchen, deren Kenntnis wir uns im Kampf zunutze machen können. Das ist sicher unsere beste Möglichkeit, den Feind zu verstehen. Falls wir überhaupt siegen sollten, dann womöglich aufgrund der genauen Untersuchung dieser Wesen. Und vielleicht ergeben sich daraus auch weitere Hinweise auf das Wesen der Erde – natürlich lernen wir im Laufe der Zeit immer mehr über den Boreal-Archipel. Anscheinend sind sie durch ein Tor aus einer anderen Welt gekommen. Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen.«
»Andere Welten … mag sein, vielleicht.« Nelum nickte, sah zu Boden und überlegte. »Ich möchte aber behaupten, dass sie mit uns, also mit unserer Welt, näher verwandt sind als zunächst angenommen. Wir wissen, dass sie auf zwei Beinen gehen; auch haben sie Facettenaugen und ähneln anatomisch vielen Lebewesen unter unserer Roten Sonne. In einer anderen Welt mit ganz anderen Landschaften und anderen Biosystemen würde man erwarten, dass der Selektionsdruck allmählich weit größere Unterschiede hervorgebracht hätte, drei Augen oder drei Beine zum Beispiel. Interessanterweise ist das nicht der Fall … und das bedeutet, dass die Welt, aus der sie kommen, einst der unseren ähnlich war oder wir womöglich gemeinsame Vorfahren besitzen. Wir haben ähnliche evolutionäre Züge und teilen deshalb eine Geschichte.«
»Wir haben die gleichen Wurzeln«, flüsterte Brynd voller Bewunderung für die Theorie seines Leutnants.
Nelum nickte, ohne den Blick von den beiden Geschöpfen zu nehmen.
Irgendwann in den kommenden Wochen würden sie auf eine Lösung stoßen, obwohl ihre Fragen lawinenartig zunahmen. Brynd konnte die Fakten nur mit großer Mühe begreifen, denn anders als Nelum hatte er sich im Leben kaum mit gründlicher, wissenschaftlicher Forschung befasst. Diese Okun hatten offenbar einmal eine Vergangenheit mit Menschen und Rumeln gehabt. Würden sie also jetzt eine Welt miteinander teilen können? Er betrachtete seinen Leutnant. Sollte Brynd in der heraufziehenden Auseinandersetzung etwas zustoßen, sollte dieser Kopf, dieser Nelum für alle taktischen Fragen allein zuständig sein.
»Es wäre nützlich gewesen, die Tore zu besuchen, durch die diese Wesen angeblich gekommen sind.«
»Und warum geht das nicht?«, fragte Nelum.
»Weil sie von feindlichen Truppen umgeben sind. Ihr habt die Berichte der Garudas ja gelesen. Noch immer kommen täglich viele Okun auf Tineag’l an. Eine Reise dorthin wäre zu gewagt, zumal wir uns mitten durchs Invasionsheer des Gegners schlagen müssten.«
»Also müssen wir einfach dasitzen und auf einen Angriff warten, der uns gelten kann, aber auch einer Stadt weiter im Süden«, sagte Nelum und brachte damit auf den Punkt, was beide dachten. Es war ein Geduldspiel. »Gut möglich, dass wir sterben und nie herausfinden, was all das bedeuten mag.«
Unvermittelt begann ein Okun zu kichern. Brynd kauerte sich nieder, um das Wesen genauer zu betrachten. Es besaß eine Mundpartie; sein Kiefer ähnelte dem eines wütenden Hundes und wies mehrere metallisch glitzernde Schneidezähne auf.
Brynd warf Nelum einen Seitenblick zu. »Versucht es zu reden ?«
»Schon möglich – wer hätte das gedacht? Doch was mag es uns sagen wollen?«
Die Laute des Geschöpfs glichen mehr einem bellenden Husten als Worten, und obwohl Brynd ein wenig zuhörte, war ihm doch klar, dass mit einer Verständigung kaum zu rechnen war.
»Wenn wir nur irgendwie erfahren könnten, wovon es da redet«, sagte Brynd.
»Na ja, wir haben schließlich Jurro dabei … «, schlug Nelum vor.
»Das könnte den Versuch lohnen.«
Der Dawnir eilte dröhnend über den Flur, der zur kleinen Zelle der Okun führte. Wie aufgeregt er war! Denn wie oft mochte er neuen Lebewesen begegnet sein? Womöglich nie – jedenfalls nicht seit dem Auftauchen seiner selbst im
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