Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
rote Albinoaugen unterschieden ihn von den anderen. »Klar ist nur, dass sie mich um Vergebung bitten, doch ich verstehe nicht, woher ich das weiß. Zufallswissen! Vielleicht habe ich diese Lautfolge in einem Text gelesen. Oder ich habe sie in viel früherer Zeit gelernt. Das kann ich nicht sagen. Wie kann man seinem Gedächtnis trauen, wenn nicht alles genau dokumentiert ist, sondern es sich vielleicht nur um den Schatten einer Erinnerung handelt? Die Gewölbe meines Geistes sind gewaltig gewachsen.«
Jurro entdeckte in den Mienen der Okun keine Emotionen, während die Gesichter von Menschen und Rumeln so oft deren Gefühle verrieten und so leicht zu lesen waren wie die von Kindern. Diese Okun waren etwas ganz anderes. Das war wirklich rätselhaft!
»Ich spüre es wohl eher, als dass ich es weiß, doch sie sehen in mir eine Bedrohung. Ja, das ist so. Sie wissen, wer ich bin!« Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Stich, denn er war es gewöhnt, den Leuten um sich herum bloß als Mythos zu gelten.
»Oder sie wissen, was Ihr seid«, gab Brynd zu bedenken. »Meint Ihr, wo sie herkommen, gibt es mehr von Eurer Sorte? Und dass sie sich dort vor solchen wie Euch fürchten?«
»Gut möglich«, brummte Jurro.
Er musste unbedingt mehr über sie erfahren. Obwohl ihre Verständigung einseitig verlief, bot sich ihm hier erstmals in seinem langen Leben die Möglichkeit, herauszufinden, wer er war. So lange schon war er nicht allein den Regierenden von Villjamur, sondern – wichtiger noch – auch sich selbst ein Rätsel gewesen. Er hatte zahllose Regenten und Generationen kommen und gehen und auch die Eiszeit ausbrechen sehen. Nichts davon war ihm wichtig, weil das Muster unverändert geblieben war: Menschen wie Rumel machten jedes Jahrzehnt die gleichen Fehler. Er selbst war unterdessen kaum gealtert und hatte die ganze Zeit wissen wollen, wer er war und woher er kam.
»Ich muss natürlich herausfinden, woher diese beiden kleinen Exemplare gekommen sind«, erklärte Jurro.
Der Albino betrachtete ihn einfühlsam. Dieser bleiche Kerl, dachte Jurro, ist stets ungewöhnlich klug gewesen. »Verstehe«, gab der Kommandeur zurück. »Und Ihr glaubt, das Invasionsheer lässt Euch durch?«
Jurro öffnete achselzuckend die Arme. »Vielleicht brauche ich Hilfe, doch ehe ich losziehe, will ich die zwei möglichst eindringlich befragen. Ich verstehe eine Menge von Sprachstrukturen. Kann sein, dass ich den beiden noch entscheidende Informationen entlocke.«
»Das wäre sehr hilfreich«, pflichtete der Kommandeur ihm bei. »Doch falls Ihr hierbleiben wollt, müsst Ihr womöglich auf eigene Faust vorgehen. Wir benötigen alle Nachtgardisten für den Schutz der Stadt.«
Jurro hatte keine Einwände, sondern musterte die Okun erneut. Sie hatten sich wieder erhoben und sahen ihn weiter an. Nur ihre Mundpartien bewegten sich. »Sie scheinen große Angst vor mir zu haben; darum habe ich starke Zweifel, dass ihre Artgenossen sich mir in den Weg stellen. Ich werde einen Plan entwickeln und Landkarten sowie Euren Rat brauchen, Kommandeur, welche Straßen ich nehmen soll, um zu den sogenannten Toren zu finden, durch die diese Kerlchen in die Welt gekrochen sind. Und Ihr müsst mir erlauben, einige Zeit mit ihnen in einer Zelle zu verbringen, damit ich ihnen zusetzen und Informationen gewinnen kann.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum.
KAPITEL 20
D er Dawnir schob sich durch die schmale Eisentür und kam in die Zelle gepoltert, um sich ein zweites Mal mit den Okun zu befassen. Die Geschöpfe drängten von ihm fort, pressten den Rücken an die Mauer und scharrten mit den Füßen am Boden. Jurro gab ihnen mit verschiedenen Gesten zu verstehen, sie sollten sich beruhigen, doch das nutzte nicht viel. Furcht hatte sie ergriffen und sie nervös und unberechenbar werden lassen. Er stellte zwei Laternen auf den Boden; ein Wächter schlug hinter ihm die Tür zu und ließ ihn mit den beiden Vertretern der neuen Gattung allein. Es gab weder Stühle noch Tische, kein Zeichen von Zivilisation, nur steinerne Oberflächen und den leeren Raum zwischen ihnen und ihm. Allen war eine unbestimmbare Anspannung gemein.
Wie konnte er zwischen ihrer und seiner Sprache eine Brücke bauen, um ihre Geheimnisse zu erschließen?
Das Zucken der Okun ließ nach, und ihr Blick – oder was er dafür hielt – ruhte auf ihm. Bauchige Augen, glänzende Panzer, fremdartige Züge: Ihr andersweltliches Aussehen ängstigte ihn fast, doch er hütete sich, es als angeborene
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