Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
sich wieder um die drei alten Kultisten in Tweed. Die Frau war beinahe so groß wie er. Die beiden Männer – der eine mit Schnurrbart, der andere mit Glatze – betrachteten weiter die Zeichnungen, die sie aufs Pflaster gemalt hatten: seltsame, mit Kreide geschriebene Buchstaben und Ziffern. Dazu gestikulierten sie auffällig aufeinander ein.
»Ja, Ihr seid, äh … «
»Bellis! Vom Orden der Grauhaarigen, zu Euren Diensten. Sir, habt Ihr inzwischen eine Verwendung für uns gefunden? Wir sind noch immer mindestens so agil wie all die waghalsigen jungen Kultisten, von denen sich ständig welche in die Luft jagen. Das macht die jahrelange Erfahrung, wisst Ihr!«
Diese Truppe erschien ihm verrückt und unglaubwürdig, und im Moment hatte er ohnehin Besseres zu tun. Zudem roch Bellis nach Alkohol. »Noch konzentriert sich die Planung leider auf weniger esoterische Methoden«, gab er zurück.
»Ach ja. Na, wir sind in der Nähe, falls Ihr uns brauchen solltet. Wirklich schade, da wir Euch einiges bieten könnten. Aber wenn Ihr unbedingt die dummen, konventionellen Methoden nutzen wollt: Nur zu, junger Mann!« Sie deutete einen militärischen Gruß an. Ob sie sich über ihn lustig machte?
Er lächelte verhalten und ging weiter.
Rotes Sonnenlicht floss über den Schreibtisch in Brynds kleinem Arbeitszimmer, von wo er den Hafen übersah. Möwen und Pterodetten krächzten vor dem Fenster und kreisten endlos am Himmel. Alle vier Wände des Büros hingen voller Schaubilder und Landkarten, in die mit verschiedenen Farben mögliche Strategien eingetragen waren. Dicke Diagonalen verliefen wie Wunden quer über die Unterlagen. Brynd hatte Straßen und Stadtpläne gleichermaßen studiert und berechnet, wie viele Soldaten bei den verschiedensten Angriffsszenarien wann und wo zur Verteidigung benötigt wurden. Auch hatte er die Wahrscheinlichkeiten kalkuliert, auf bestimmten Wegen leichten oder erschwerten Zugang zu haben, denn schmale Straßen und Engpässe konnten sich ebenso als Segen wie als Fluch erweisen. Solche neuralgischen Punkte hatte er sich an Ort und Stelle eingeprägt und später Anweisungen für andere Offiziere zu Papier gebracht.
Garuda-Berichten zufolge würde der Angriff vermutlich direkt vom Meer kommen und auf Villirens Hafen zielen, da der Feind sich genau gegenüber der Stadt sammelte. Also hatte Brynd kilometerweit längs der Küste in regelmäßigen Abständen kleine Wachtrupps stationiert.
Es klopfte an die offene Tür, und Brynd sah auf.
Nelum Valore stand vor ihm, Leutnant der Nachtgarde. Er gehörte zu Brynds besten Kameraden. Die beiden hatten lange zusammen gedient und gekämpft und einander dabei sehr gut kennengelernt. Die hochmuskulöse Gestalt ließ Nelum als jemanden erscheinen, der auf seine Kraft vertraute, um über die Runden zu kommen, doch Brynd schätzte ganz andere Dinge an ihm: seine enorme Intelligenz, seine scharfe Logik, seine Gabe, die Schwächen des Gegners zu erkennen. Nelums dunkle Haut schien die Aura der Rätselhaftigkeit noch zu steigern, die stets von ihm ausging, wenn er versunken nachdachte. In diesen unsicheren Zeiten hatte Brynd den Eindruck, Nelum gehöre an die Spitze jeder Befehlsstruktur.
»Sir, die Okun.«
»Was ist mit ihnen?«
Die Okun waren vor Wochen bei einem Scharmützel, das zum Tod seines Freundes und Kameraden Apium geführt hatte, auf Tineag’l gefangen genommen worden, seither aber nicht ansprechbar gewesen und hatten die ganze Zeit – anscheinend schlafend – in Villiren in einem dunklen Kerker gelegen.
»Sie sind aufgestanden und munter.«
»Wie sind sie erwacht?«, fragte Brynd.
»Gestern wurden sie in eine andere, hellere Zelle verlegt«, erwiderte Nelum. »Da sie ganz schwach auf Fackeln reagierten, vermuteten wir, Licht würde ihnen guttun. Und wisst Ihr was? Bei Tage schienen sie langsam zum Leben zu erwachen. Sogar ihre Wunden fingen wieder an zu bluten. Die zwei sind noch immer eingesperrt.«
»Gut, ich komme.« Brynd nahm seinen Säbel und folgte dem Leutnant aus dem Zimmer.
Mit Nelum und einigen Wächtern im Gefolge trat Brynd in die metallverkleidete Gefängniszelle und zog seinen Säbel, da er keine Ahnung hatte, was ihn erwartete, und deshalb etwas ängstlich war, wie er sich eingestehen musste.
Die beiden massigen, fremdartigen Wesen lagen noch immer am Boden. Unter ihrem Panzer pulsierte das Fleisch; klebrige Säfte sickerten durch ihre Haut und sammelten sich als schwarze Lache nahe seinen Füßen. Die beiden stanken
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