Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
überflüssig.«
Lupus gesellte sich wieder zu den anderen, die auf weitere Befehle warteten. Am Himmel trat der zweite Mond zwischen den Wolken hervor, und Bohr und Astrid beleuchteten den beschädigten Port Nostalgia. Brynd war sich der Tatsache nur zu bewusst, dass dies erst der Anfang war.
KAPITEL 26
A uf dem Weg zur Kirche sah Nelum den Soldaten Lupus mit halb unter der Kapuze verborgenem Gesicht aus der Kaserne gehen.
»Noch so spät unterwegs, Soldat?«
»Leutnant, ich, äh … ich mach nur rasch einen Kontrollgang … Na ja, eigentlich ist es eine Privatsache, aber der Kommandeur hat es genehmigt.«
Nelum nickte und sah dem Soldaten auf seinem Weg durch die verschneiten Straßen nach. Die Zahl der Patrouillen war letzthin gestiegen, und die Kontrollgänger führten Glocken mit sich, um bei weiteren Angriffen effektiver Alarm schlagen zu können.
Seit einigen Jahren kannte Nelum ihn nun und hatte den Eindruck, Lupus wirke in jüngster Zeit recht beunruhigt. Gerüchte wollten wissen, er treffe sich mit einer Frau, einer alten Liebe, die in der Stadt lebe. Nelum nahm daran keinen Anstoß, solange dies seinen Dienst als Soldat nicht beeinträchtigte, doch die Zeit für eine Affäre schien sehr schlecht gewählt: Welchen Sinn hatte es, sich in einer Stadt zu verlieben, die womöglich dem Untergang geweiht war?
Er winkte einen Fiaker heran, der mit ihm eine weite Strecke durch Villiren ratterte, ehe er seinen Weg zu Fuß fortsetzte. Dabei kam er an zwei Obdachlosen vorbei, die in Decken gehüllt in einem Hauseingang saßen. Kurz dahinter war eine ganze Familie um ein Feuer versammelt, das aus einer Metalltonne schlug. Als die Leute ihn um Kleingeld baten, konnte er nur weitergehen.
Die Kirche dominierte die Straßen ringsum. Der alte Bau ragte hoch auf und verlieh der Stadt an dieser Stelle etwas geschichtlich Gewachsenes. Stabwerk und Querbalkone gehörten zum Filigransten, was er in der Baukunst kannte, und die gewaltigen, lanzettartigen Fenster waren Ehrfurcht gebietend. Er bewunderte diese Pracht. Vor dem mit herrlichen Skulpturen umgebenen Eingang zur Jorsalirkirche befand sich ein kleiner, überdachter Vorhof, in dem warm und einladend eine Laterne brannte, und darauf hielt er zu.
Kurz darauf hatte Nelum die Schwelle überschritten und roch die Geschichte dahinter. Bei Kerzenschein musterte er die gewaltigen Fresken an den Wänden mit ihren verblassenden Farben und Formen und warf einen Sota in den Opferstock.
Alles hier war vertraut und rief Erinnerungen hervor. Er dachte daran, wie er durch ähnlich geschmückte Räume zu den Bibliotheken der großen Privatakademien in Villjamur gegangen war. Seit seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, hatte der Vater ihn oft ermuntert, doch Gelehrter zu werden und sich denen anzuschließen, die sich mit Tod, Apokalypse, Himmel und Hölle befassten, oder wenigstens denen, die als Festredner tätig waren. In dem streng nach den Geboten der Jorsalirkirche lebenden Haushalt wurde sogar überlegt, ob er Priester werden solle, und mehrmals fing der junge Schüler sich eine rasche Ohrfeige dafür, diesen Vorschlag bespöttelt zu haben. Die Ironie, dass es sich bei seinem Vater um einen gescheiterten Priester handelte, war Nelum damals nicht entgangen, und er verzieh seinem Erzeuger die Wut über die verlorenen Möglichkeiten. Doch er hatte all das gemieden, letztlich sogar das Geld, das sein Vater ihm für das Studium geben wollte, und sich stattdessen als Soldat verpflichtet.
Trotz dieser quälenden Erinnerungen erleichterte es ihn, hier in der Kirche zu sein, und er freute sich daran, dass es in Villiren solche Schönheit gab. Die Geschichte war in diesen Mauern inmitten der Altstadt gegenwärtig. Fresken zeigten die Gründergötter Bohr und Astrid, die vor zweihunderttausend Jahren der alten Gattung der Dawnir angehört hatten und nach denen inzwischen die beiden Monde benannt waren. Dann gab es Darstellungen aus den Rumelkriegen, die fünfzigtausend Jahre später stattgefunden hatten, als es noch keine Menschen gab. Andere Malereien zeigten die Máthema- und die Azimuth-Kultur, die nun über dreißigtausend Jahre in der Vergangenheit lagen; zwei riesige Königreiche, in denen herrlichster Überfluss geherrscht und die Mathematik sowie die ihr verbundenen Wissenschaften religiöse Verehrung genossen hatten und deren Technik – anders als die der Gegenwart – sehr hoch entwickelt gewesen war. Missernten jedoch und Krieg hatten diese Zivilisationen in die
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