Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)
Kultisten und der Kirche einen solchen Abgrund von Rivalität gibt. Allerdings habe ich ja auch viele Jahre als Soldat auf Einsätzen an den Grenzen des Reichs verbracht.«
»Wir versuchen, das nicht zu publik zu machen, doch es ist kein Geheimnis, dass die Kirche all die verachtet, die falsche Geschichten propagieren – zumal die Kultisten.«
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass … «
»Es besteht immer die Gefahr von Glaubensspaltungen. Gegenwärtig entwickelt sich so ein Schisma auf den südlichen Inseln, wo eine von Priester Ulryk angeführte Sekte eine große Gefahr zu werden droht … « Der alte Priester hielt inne und sammelte sich. Hatte er mehr gesagt als tunlich? »Doch lasst uns nun Gefahren überdenken, die uns näherliegen: die nächtlichen Gewohnheiten des Kommandeurs.«
»Das sollten wir tun, Sir«, pflichtete Nelum ihm bei. »Was also schlagt Ihr vor?«
Der Priester sah eine Weile ins Ungefähre und zitierte dann: »›Da ließ Bohr sie all das Schändliche tun, was sie zu tun begehrten, und so vollführten sie mit ihren Leibern ekelhafte Dinge und verehrten, was Bohr geschaffen hatte, nicht aber ihn selbst, und Bohr überließ sie ihren Begierden. Männer begingen miteinander abscheuliche Laster und erlitten dafür die nur zu verdiente Strafe. Bohr ließ sie mit ihrem bösen Bewusstsein allein und erlaubte ihnen, zu tun, was man nicht tun sollte. Ihr Leben wurde zu einer einzigen Abfolge von Schlechtigkeiten und bestand nur mehr aus Sünde, Gier, Hass, Neid, Mord, Kampf, Täuschung, bösartigem Verhalten und übler Nachrede. So sind die, die Bohr verachten: anmaßend, stolz und prahlerisch.‹«
Dieser Text war Nelum vage bekannt.
Priester Pias fuhr fort: »Unsere Überlieferung lässt keinen Zweifel daran, dass diese Handlungsweisen prinzipiell sündhaft und wider die Natur sind. Gemäß den Gesetzen des Kaiserreichs und unseren Schriften wird der Schuldige mit dem Tod bestraft. Angesichts der gesellschaftlichen Position Eures Kommandeurs könnte seine Bloßstellung Schande und Erniedrigung über Euer Regiment und die ganze Armee bringen, ja, die gesamte Regierungsstruktur gefährden.«
»Ihr könnt die unerwünschten Nebenwirkungen doch sicher beeinflussen?«
Dem Schürzen des Mundes zufolge schien dem Priester diese Frage zu gefallen. »Ich weiß die Schwierigkeiten zu würdigen. In der heraufziehenden Krise sind wir auf seine Fähigkeiten angewiesen. Wir müssen an die Bürger denken. Lassen wir uns also vorläufig von ihm helfen. Bald aber sollten wir uns seiner entledigen. Haltet mich bis dahin auf dem Laufenden!«
Nelum verabschiedete sich von dem Alten und küsste ihm die Finger, bevor er sich wieder hinaus in die Kälte begab. Der Weg durch den Schneesturm und an Obdachlosen vorbei zu seinem nächsten Ziel war hart, und er fragte sich, wann die Zeit reif wäre, das Schicksal seines Kommandeurs in seine Hände zu nehmen.
»Ich suche einen Mann namens Malum«, erklärte Nelum dem Barkeeper und warf einige Münzen auf die Theke. Die Taverne war anrüchig, eine heruntergekommene Spelunke, in der sich um diese Zeit kaum Gäste aufhielten. Zwei alte Männer saßen in kameradschaftlichem Schweigen am anderen Ende der Schankstube, in der es nach schalem Bier roch.
Der Blick, den der Barmann ihm zuwarf, verriet, dass er Malum kannte oder zumindest von ihm gehört hatte. Er zog das Serviertuch von der Schulter, beugte sich über die Theke und blickte nach rechts und links, ehe er ihm eine Wegbeschreibung zuraunte. Dann lehnte er sich zurück und meinte säuerlich: »Mehr sag ich nicht.«
Nelum nickte, dankte ihm, trat auf die Straße und hielt einen Fiaker an. Als er dem Kutscher aber das Ziel der Reise nannte, weigerte der sich, ihn direkt dorthin zu bringen, und war nur dazu zu bewegen, ihn in der Nähe abzusetzen.
»In Ordnung«, erwiderte Nelum und wunderte sich über das Geheimnis, das diesen Bandenchef umgab.
Auf der Fahrt in der einst feinen, nun aber längst heruntergekommenen Droschke über das Kopfsteinpflaster der Stadt wurde er kräftig durchgeschüttelt. Schnee wirbelte an die Scheiben, und Nelum versank in Gedanken. Noch immer quälte er sich damit, was er tun musste, und wog die Worte des Priesters gegen das ab, was er selbst zu tun für richtig hielt.
Der Fiaker hielt. Nelum bezahlte den Kutscher und musterte dann die Umgebung. Während die Droschke davonraste, stellte er fest, dass die Gegend gar nicht so schlecht war. Die Gebäude ähnelten einander überall in der
Weitere Kostenlose Bücher