Die Legende Der Wächter 07: Der Verrat
reden.“ Erst nach einer ganzen Weile öffnete er die Augen wieder, blinzelte energisch und fuhr fort: „Dir ist schon klar, dass ich nie mehr zu den Reinen zurückkehren kann, wenn ich dir das erzähle, oder?“
„Willst du denn überhaupt zurückkehren?“
„Gute Frage.“ Philipp seufzte. „Wie steht es mit dir?“
„Ich kehre erst zurück, wenn ich die Wahrheit weiß.“
„Ich kann dir nur berichten, was ich gehört habe. Ob es wahr ist oder ob es nur Gerüchte sind, kann ich nicht beurteilen.“
„Fang an!“
„Der Große Ga’Hoole-Baum ist ein ganz besonderer Ort, um den sich viele Legenden ranken. Es heißt, die Eulen dort denken selbstständig und treffen eigene Entscheidungen. Im Großen Baum lernen nicht nur alle Eulen Lesen und Schreiben, sie befassen sich auch mit den großen Rätseln, von denen wir umgeben sind.“
„Was sind das für Rätsel?“
„Die Wächter erforschen die Rätsel von Luft und Wind, von Sternen und Mond, von Feuer und Eis. Sie stellen nicht nur Waffen her, sondern auch viele andere Gegenstände.
Und man erzählt sich, dass dort die verschiedensten Eulenarten einträchtig zusammenleben. Schleiereulen gelten in Ga’Hoole nicht als etwas Besonderes. Fleckenkäuze und Höhlenkäuze, sogar Sperlingskäuze und Elfenkäuze sind genauso geachtet.“
„Sperlingskäuze und Elfenkäuze auch!“ Nyroc war verblüfft.
„Angeblich gibt es dort kaum Vorschriften und Verbote.“
„Gilt dort gar nichts als pronk?“
„Nein. Eine ältere Höhlenkäuzin hat wohl einmal ein Buch aus der Bibliothek zu pronk erklärt. Sie hat sich einen Verweis eingefangen.“
Nyroc blieb der Schnabel offen.
„Wie schon gesagt, ich weiß nicht, was an diesen Gerüchten dran ist“, wiederholte Philipp. „Auf jeden Fall hat deine Mutter uns allen verboten, über den Großen Baum zu sprechen. Es ist lediglich erlaubt, Schlechtes über Ga’Hoole zu sagen.“
„Mir hat mal jemand erzählt, dass die Bewohner von Ga’Hoole Euleneier fressen, weil ihnen das angeblich Kraft und Mut verleiht.“
„Zum Beispiel. Ich habe das übrigens nie geglaubt.“
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht“, sagte Nyroc kleinlaut. „Vielleicht hat mir das Feuer lauter Trugbilder vorgegaukelt. Vielleicht ist das, was du über meine Eltern gehört hast, gar nicht wahr.“ Er schielte hoffnungsvoll zu Philipp hoch.
Der Rußeulerich schüttelte den Kopf. „Diese Fragen kannst du dir nur selbst beantworten, Nyroc.“
Nyroc schwieg. Dann gab er sich einen Ruck und sagte: „Jetzt sollst du mir aber von dir erzählen. Du hast es versprochen.“
Philipp war immer der Meinung gewesen, dass er selbst ein bedauernswertes Leben führte. Nun aber kam ihm der Verdacht, dass Nyroc womöglich noch viel bedauernswerter war, wenn er irgendwann die ganze Wahrheit über seine Eltern herausfinden würde.
„Mein Vater und ich stammen aus Silberschleier, einem der schönsten Wälder der ganzen Eulenwelt.“
„Gibt es dort Bäume mit grünem Laub?“, wollte Nyroc wissen.
„Dort wachsen nicht nur Laubbäume, sondern auch Bäume mit immergrünen Nadeln, wie Kiefern, Tannen und Fichten. So viele Bäume, wie es dort gibt, hast du noch nie gesehen!“
„Ich habe noch keinen einzigen Baum gesehen“, sagte Nyroc bekümmert.
„Wie gesagt, in Silberschleier ist es wunderschön. Doch immer mal wieder bricht ein Waldbrand aus.“
„Das ist aber gar nicht gut.“ Nyroc dachte an die versengten Felsschluchten, in denen er aufgewachsen war.
„Auch Waldbrände haben ihre guten Seiten. Sie vernichten alte, tote Bäume und lassen junge nachwachsen. Kiefernzapfen öffnen sich eigentlich erst nach Jahren und verstreuen ihre Samen. Wenn es aber brennt, springen die Zapfen in der Hitze auf und die Samen säen sich aus.“
„Verbrennen die Samen denn nicht?“
„Nein. Es ist eine Art Wunder. Aus der Zerstörung erwächst neues Leben.“ Philipp setzte leise hinzu: „Aber nicht immer.“
Nyroc legte fragend den Kopf schief. „Wie meinst du das?“
„Ich habe bei einem Waldbrand meine ganze Familie verloren: meine Mutter, meine Geschwister und meinen Vater auch.“
„Aber dein Vater hat dich doch zu den Reinen gebracht, oder nicht?“
„Er hätte genauso gut im Feuer umkommen können.“
„Wieso?“
„Weißt du, meine Mutter und mein Vater waren grundverschieden. Meine Mutter hatte Ambitionen.“
„Was sind Ambitionen?“
„Hoffnungen und Träume. Höhere Ziele. Meine Mutter entstammte einer
Weitere Kostenlose Bücher