Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
Legenden von Ga’Hoole.“
Verkehrte Welt
In der folgenden Nacht trafen sich Gylfie und Soren wieder unter dem Felsbogen zwischen ihren beiden Glaucidien. Eigentlich hatten sie verabredet, nun endlich Gylfies glorreichen Plan in die Tat umzusetzen, aber Soren waren mittlerweile Zweifel gekommen.
„Ich weiß nicht, Gylfi e … Und wenn es schiefgeht?“
„Soren!“, sagte Gylfie flehentlich, „ich weiß genauso wenig wie du, ob es klappt, aber wir können es doch wenigstens versuchen! Was haben wir denn schon zu verlieren?“
„Den Verstand zum Beispiel.“
Gylfie stieß ein leises Gurr aus. Fast alle Eulenarten kicherten auf diese Weise.
Es gab einen Luftzug und die Elfenkäuzin fand sich auf dem Rücken liegend wieder. „Hier wird nicht gelacht! Gelacht wird ausschließlich unter Anleitung von Leutnant Spoorn. Mach das nicht noch mal! Beim nächsten Mal melde ich dich. Ich freue mich schon auf deine erste Unterrichtsstunde in ordnungsgemäßem Lachen.“
Damit entfernte sich der Aufseher. Soren und Gylfie wechselten einen Blick. Es hatte ihnen glatt die Sprache verschlagen. Wo waren sie hier bloß gelandet? Hier gab es Unterricht im Schlafen, Unterricht im Lachen und Lachbehandlungen!
Soren begriff nicht, wozu eine Schule wie Sankt Äggie gut sein sollte. Was sollte man hier eigentlich lernen und wozu? Was hatte es mit den Tupfen auf sich, die angeblich wertvoller als Gold waren? Was hatten Skench und Spoorn mit ihnen vor? Wozu wollte man sie ausbilden? Zu richtigen Eulen jedenfalls nicht, das stand fest.
Aber jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, über diese Fragen nachzugrübeln. Seit Sorens eigener Lachbehandlung beschäftigte ihn noch etwas ganz anderes.
„Du kannst vielleicht von hier fliehen, Gylfie, ich nicht.“
„Was redest du da für einen Unsinn, Soren?“
„Na, du bist doch schon so gut wie flügg e – das sieht man. Dir wachsen schon die letzten Federn. Du kannst bald hier abhauen.“
„Du auch.“
„Du bist wohl mondwirr! Die haben mich kahl gerupft, Gylfie.“
„I wo, die haben dir bloß die Flaumfedern ausgerupft. Die Ansätze der Hauptfedern sind noch da und die Nebenfedern sprießen auch schon.“
Soren hob einen Flügel und inspizierte ihn. Tatsächlich, man sah noch die Ansätze. Trotzdem, dachte er, kann man denn ohne Flaumfeder n …?
Gylfie erriet, was ihn beschäftigte. „Zum Fliegen braucht man keine Flaumfedern, Soren. Flaumfedern sind nur dazu da, einen warm zu halten. Du kannst auch ohne Flaumfedern fliegen, dann ist dir eben kalt, na und? Und bis du richtige Flugfedern hast, ist auch dein Flaum wieder ein bisschen nachgewachsen.“
Soren musterte seinen Flügel noch einmal kritisch. Zum ersten Mal leuchtete wieder ein Schimmer Hoffnung aus seinen dunklen Augen in dem herzförmigen, weißen Gesicht. Gylfie schöpfte neue Zuversicht. Sie musste Soren unbedingt davon überzeugen, dass er es schaffen konnte. Er musste wieder auf ihren Plan vertrauen.
Gylfie hatte miterlebt, wie ihren Geschwistern scheinbar über Nacht unbekannte Kräfte zugewachsen waren. Sie hatten sich in die Lüfte erhoben, nachdem sie tagelang vergeblich flatternd von Ast zu Ast gehüpft waren. Sie hatte ihren Vater gefragt, wie ihre Geschwister das anstellten. Was hatte der Vater doch gleich geantwortet?
„Nun, Gylfie, man kann üben und üben und es nützt alles nichts, wenn man sich das Fliegen nicht zutraut. Erst mit genug Selbstvertrauen hat man das entscheidende Gefühl im Magen.“ Der Vater hatte innegehalten und dann belustigt hinzugesetzt: „Schon komisch, dass unsere stärksten Gefühle alle aus dem Magen komme n – sogar, wenn es die Flügel betrifft.“ Wie um seine Behauptung zu untermalen, hatte er ein Büschel Federn aufgestellt und noch einmal bekräftigt: „Bei unsereinem geht alles vom Magen aus.“
„Hör zu, Soren“, sagte Gylfie, „ich habe im Gewöllorium noch eine Menge erfahren, nachdem du ohnmächtig hinausgetragen wurdest.“
Soren blinzelte und schüttelte sich, wie es Eulenkinder tun, wenn sie verlegen sind oder sich schämen. „Als ich blöde Fragen gestellt habe, hast du lieber zugehört. Kluge Gylfie.“
„Jetzt hack nicht auch noch selbst auf dir rum!“, erwiderte Gylfie ungehalten. „Das haben die anderen doch schon erledigt.“
Ihre Unverblümtheit verdutzte Soren. Er hörte auf, verlegen zu blinzeln, und sah der Elfenkäuzin in die Augen.
Sie sprach weiter: „Hier in Sankt Ägolius herrscht eine verkehrte Welt, alle sind
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