Die Legende der Wächter 1: Die Entführung
durchgedreht! Darum dürfen wir uns ja auch nicht mondwirr machen lassen. Sonst können wir nicht mehr klar denken und kommen nie hier weg. Und denken müssen wir, um einen Fluchtplan zu entwerfen. Also pass jetzt gut auf.“
Soren nickte und Gylfie fuhr fort: „Erstens ist morgen die dritte Nacht des vollen Scheins. Danach fängt der Mond wieder an zu schwinden. Was das bedeutet, habe ich dir ja schon erklärt. In ein paar Tagen wird er kaum noch zu sehen sein, dann kann uns auch niemand mehr mondwirr machen. In jeder Nacht, die wir im Glaucidium zubringen, wird der Schein des Mondes ein wenig schwächer. Für uns wird es deshalb immer leichter, im Schatten zu bleiben. Aber bis dahin müssen wir so tun, als seien wir wie alle anderen mondwirr geworden.“
Soren verkniff sich eine Frage, auch wenn Gylfie die Einzige war, die ihn nicht dafür bestraft hätte. Er wollte ihren Gedankengang nicht unterbrechen, denn eines war ihm inzwischen klar: Alles an diesem Elfenkauzmädchen war zierlich und klein, aber ihr Verstand, der war überragend. Und diesen Verstand benutzte sie soeben, das spürte er.
„Nach der nächsten Monderneuerung hast du bestimmt fast alle deine Flugfedern, und wenn der nächste volle Schein kommt, bist du endlich flügge.“
„Und du, Gylfie? Bei dir dauert es doch bloß noch ein paar Tage.“
„Ich warte, bis du so weit bist.“
„Du willst auf mich warten!“ Diesmal war es keine Frage, Soren war fassungslos. So fassungslos, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Darum war es jetzt an Gylfie, eine Frage zu stellen.
„Was ist denn los, Soren?“
„Ich kann einfach nicht glauben, was du eben gesagt hast, Gylfie. Warum solltest du auf mich warten, wenn du schon in ein paar Tagen abhauen kannst?“
„Das ist es ja gerade, Soren, ich könnte dich niemals im Stich lassen. Du bist mein Freund, und Freunde sind wichtiger als alles andere. Wenn ich ohne dich fliehen würde, wäre mir mein Leben keine zwei Gewölle mehr wert. Außerdem brauchen wir einander.“
„Ich brauche dich viel mehr, als du mich brauchst“, sagte Soren kleinlaut.
„Ach, Waschbärkacke!“
Abermals traute Soren seinen Ohren nicht. „Waschbärkacke“ war einer der schlimmsten, schmutzigsten Ausdrücke, die ein Eulenkind in den Schnabel nehmen konnte. Kludd hatte sich einmal eine kräftige Ohrfeige von seiner Mutter eingefangen, weil er zu Mr s Plithiver „Waschbärkacke!“ gesagt hatte.
„ Du hast doch herausgefunden, dass man uns hier mondwirr machen will, indem man uns immerzu unsere Namen wiederholen lässt, Soren. Das war genial!“
„Aber du bist zuerst dahintergekommen, was es mit der Mondwirrnis auf sich hat. Ich hatte noch nie davon gehört.“
„Dann habe ich in dem Punkt eben besser Bescheid gewusst als du, na und? Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, was es in unseren Fall bedeutet hätte. Deine Eltern hätten dich genauso über die Gefahren des vollen Scheins aufgeklärt, wenn du ein bisschen früher geschlüpft oder wie ich in der Wüste aufgewachsen wärst. Aber jetzt hör zu, was ich gestern entdeckt habe, als du weggetragen wurdest. Ich sollte nämlich für 47-2 einen Botengang übernehmen. Dafür musste ich das Gewöllorium verlassen, und d a …“ Gylfie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um und senkte die Stimme. Die ersten Strahlen des Mondes krochen über den dunklen Horizont.
Gylfies Entdeckung
„Ich sollte den Gewöllesammlern ausrichten, dass unser Abschnitt eine neue Lieferung braucht. 47-2 hat mir gezeigt, wo es zur Großen Klamm geht. Die Große Klamm ist eher ein breiter Felsspalt als eine Schlucht und führt in der Nähe unseres Arbeitsplatzes an einer Wand des Gewölloriums hoch. Ich sollte mich einer Gruppe Eulenkinder anschließen, die auch in die Vorratsräume geschickt wurden. Unterwegs sollte ich mich aber nirgendwo anders umsehen oder aufhalten.“
Gylfie erzählte so anschaulich, dass Soren sich jede Biegung und Windung der Großen Klamm vorstellen konnte, als hätte er selbst Gylfie auf ihrem Botendienst begleitet.
„Von dem Hauptgang zweigen viele schmalere Felsgänge ab, hin und wieder hört man auch Stimmen. Merkwürdigerweise schien sich keins der anderen Eulenkinder für die Abzweigungen und noch nicht mal für die Stimmen zu interessieren. Vielleicht waren sie den Weg schon zu oft gegangen. Ich habe mich trotzdem umgeschaut und mir ist aufgefallen, dass man an einer Stelle der Klamm ein Stückchen Himmel sieht. Es sah wunderschön aus, wie ein
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