Die Legende der Wächter 2: Die Wanderschaft
Ga’Hoole.“
Die beiden Eulen kehrten einträchtig in ihre Schlafhöhle zurück. Es wurde heller, bis sich schließlich das matte Blau des Winterhimmels verdunkelte und das Licht langsam schwand. Die Wolken färbten sich violett, der Himmel wurde im Schein der untergehenden Sonne rot wie Blut. Die Sterne leuchteten au f … und die Eulen von Ga’Hoole erwachten.
Die Goldenen Krallen
Es war die finsterste Stunde der Nacht. In der letzten Zeit war der Mond stetig geschwunden, jetzt war er gar nicht mehr zu sehen. Frühestens übernächste Nacht würde er sich als flaumfederfeine Linie zeigen und erneuern. Soren lebte nun schon fast einen Monat im Großen Ga’Hoole-Baum. Das waren dreißig Nächt e – ein vollständiger Mondkreislauf.
Ja, Soren hatte inzwischen Zählen gelernt. Und nicht nur das! Doch dass er zählen konnte, darauf war er besonders stolz. Sein Vater hatte immer gesagt, die Tanne, in der sie gewohnt hatten, sei an die neunzig Spannen hoch. Damals hatte sich Soren unter dieser Zahl nichts vorstellen können. Genauso wenig hatte er gewusst, wann sechsundsechzig Tage um waren. So lange dauerte es nämlich, bis junge Schleiereulen wie er selbst flügge wurden. Mit Zahlen hatte er überhaupt nichts anfangen können. Als er seinerzeit aus dem schrecklichen Euleninternat geflohen war, hatte er sich geschworen, irgendwann Zählen zu lernen.
Doch hier gab es noch viel, viel mehr zu lernen. Soren hatte Unterricht in den verschiedensten Fächer n – bekam Flugstunden, wurde sogar im Umgang mit Kampfkrallen unterwiesen. Sie hatten an fast allen Brigaden teilnehmen dürfen, ausgenommen der Navigationsbrigade, der Glutsammler- und der Wetterbrigade. Darüber war Soren eigentlich ganz froh, denn die Wetterbrigade wurde von dem alten Ezylryb angeführt. Ihre Mitglieder standen in dem Ruf, zu den kühnsten, tapfersten Eulen im ganzen Baum zu gehören. Sie trotzten den stärksten Stürmen, selbst dem Orkan, um wichtige Informationen für Kampftrupps oder Rettungsbrigaden zu sammeln.
Heute nun, in der schwärzesten aller Nächte, führte Strix Struma die Neulinge in die Kunst des Navigierens ein.
„Wir fangen mit ein paar ganz einfachen Übungen an“, hatte die Fleckenkäuzin verkündet, als sich alle Schüler auf dem Hauptabflugast des Baumes eingefunden hatten. „Bald zeigt sich der Große Glaux am Himmel. Der Kleine Waschbär hat sich um diese Jahreszeit schon verabschiedet, dafür bekommen wir heute Nacht ein anderes, wunderschönes Sternbild zu sehe n – die Goldenen Krallen. Es ist ein sehr seltenes Sternbild, aber in diesem Teil der Welt erfreut es uns den ganzen Sommer lang.“ Sie hob einen Fuß. „Wie bei unsereinem sind es vier Kralle n – lang, krumm und spitz.“
„Aber nicht aus Gold“, rief die Sperlingskäuzin Primel vorwitzig. Seit Soren sich in der Nacht ihrer Ankunft um die Waise gekümmert hatte, waren sie Freunde geworden.
„Nein, das Gold ist eine optische Täuschung, Liebes“, erwiderte Strix Struma freundlich. „Der Eindruck entsteht durch Strömungen in den Luftschichten rings um die Sternkonstellation, aber dazu kommen wir später noch.“
Blitzschnell schossen Strix Strumas Krallen vor und erwischten einen Flughund. „Ein kleiner Imbiss, bevor wir losfliegen!“ Sie riss der Beute die Flügel ab und verteilte schmackhafte Fleischbrocken an die Schüler. „Natürlich wollen wir uns vor dem Unterricht nicht überfressen, das ist ohnehin nie ratsam, aber so ein Häppchen Fledermaus macht munter, sag ich immer. Seid ihr so weit?“
„Jawohl, Strix Struma!“, erwiderten die Schüler im Chor.
Strix Struma lehnte die Anrede „Ryb“ ab und ließ sich lieber bei ihrem Familiennamen nennen. Sie war sehr stolz darauf, einem uralten Fleckenkauzgeschlecht anzugehören.
„Gut. Primel, du fliegst bitte direkt hinter mir. Otulissa, du hast ja bereits Navigationsunterricht gehabt und kannst auf meiner Windflanke fliegen. Gylfie, du positionierst dich auf meiner anderen Flanke und du, Soren, bleibst am besten direkt hinter Primel. Noch Fragen?“
Nach seinen Erfahrungen im Sankt Äggie konnte Soren es immer noch nicht recht fassen, dass jemand ganz selbstverständlich „Noch Fragen?“ sagte.
Strix Struma bevorzugte eine militärische Ausdrucksweise, darum benutzte sie zum Beispiel das Wort „Flanke“. Sie stammte nicht nur aus einer ehrwürdigen Eulenfamilie, sie war auch ausgebildeter Windflanken-Generalleutnant und hatte an der Schlacht vom Kleinen Hoole teilgenommen.
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