Die Legende der Wächter – Der Zauber
pflegte Morgengrau prahlerisch zu sagen. Aber an welcher Grenze kämpfte der draufgängerische Bartkauz nun?
War es die Grenze zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Himmel und Glaumora, zwischen Leben und Tod? Es konnte nicht richtig sein, dass ausgerechnet Morgengrau in der Morgendämmerung seinen letzten Atemzug tun sollte!
Nein, das kann auf keinen Fall richtig sein , dachte Gylfie.
Doch sie schwankten noch viele Stunden zwischen Hoffen und Bangen. Es wurde Mittag und schließlich Abend.
„Da!“, rief Hamisch aus. „Im Osten!“ Zwei grünlich leuchtende Bänder schlängelten sich durch eine tief hängende Wolke.
„Das sind Slinella und Stingill!“, rief Gylfie erleichtert. Die beiden Flugschlangen wurden von Soren und Doktor Schönschnabel flankiert.
Gylfie beugte sich über Morgengraus Ohrschlitz. „Sie kommen! Halte durch! Weißt du noch, wie sie damals Soren das Leben gerettet haben?“
Die Flugschlangen von Ambala, deren Gift sowohl den Tod bringen als auch Leben retten konnte, waren in der Lage, auch Schwerstverwundete zu heilen. Doch Tote konnten sie nicht wieder zum Leben erwecken.
Gyllban hatte sich hochgerappelt und sah sehnsüchtig zu, wie sich die Schlangen um den nur noch schwach atmenden Morgengrau ringelten. Gylfie flog zu der Wölfin hinüber und landete in ihrem Nackenfell. „Es tut mir so schrecklich leid, Gyllban.“
„Kann man denn gar nichts mehr tun?“
„Leider nein. Die Schlangen können keine Wunder vollbringen.“
Gyllban schloss die Augen. „Dass Cody und ich damals dem MacHeath-Clan entkommen sind, war ein Wunder. Auch unser anschließendes Zusammenleben kommt mir jetzt wie ein Wunder vor. Aber es ist zu Ende.“
Der Himmel wurde schwarz. Die Sterne kamen heraus. Gyllban öffnete die Augen wieder und blickte suchend zum Himmel empor. Dann setzte sie sich in Bewegung und trabte davon. Gylfie flatterte von ihrem Rücken auf. Sie spürte, dass die Wölfin eine Weile allein sein musste.
Die Elfenkäuzin gesellte sich wieder zu der Gruppe um Morgengrau. Die beiden Schlangen sperrten die Mäuler so weit auf, als hätten sie ihre Unterkiefer ausgehakt. Ihre gespaltenen Zungen flackerten wie kleine rosafarbene Blitze durch die Nacht, als sie ihr Gift in Morgengraus immer noch blutende Wunden tropften.
Soren drehte sich zu Gylfie um. „Das Gift stillt die Blutung. Morgengrau geht es schon besser. Er atmet gleichmäßiger. Aber sein Backbordflügel sieht schlimm aus. Ich weiß nicht, ob er je wieder fliegen kann.“
„Pah – das bring ich mir im Nu wieder bei“, ließ sich eine heisere Stimme vernehmen. „Ich bin durch die harte Schule einer Waise gegangen. Ich musste fliegen lernen, als ich noch kaum flügge war. Niemand hat es mir beigebracht. Ich musste selber rausfinden, wie man’s macht. Ich habe in der Wüste Kuneer mit Füchsen zusammengelebt. Die Stare in Ambala haben mir gezeigt, wie man Löcher in Baumrinde bohrt. Da werd ich ja wohl auch mit ’nem lädierten Flügel klarkommen, wetten? Und jetzt verzieht euch, ihr alle. Ich muss ’ne Runde schlafen. Schließlich wollen wir morgen beim ersten Dunkel weiterfliegen.“ Er tschurrte in sich hinein. „Wenn ihr unbedingt wollt, könnt ihr mir ja ein bisschen Starthilfe geben.“
Beim nächsten Dunkel war Morgengrau zwar noch nicht wieder auf den Flügeln, aber immerhin zwei Nächte darauf. Schon das war ein Wunder.
Die Bande wollte in einer losen, viereckigen Formation fliegen, die „Kronkenbott“ genannt wurde. Das Vakuum, das bei dieser Anordnung entstand, half beim Transport von Verwundeten. Die Eulen von Ga’Hoole hatten sich die Methode von den Nordlandeulen abgeschaut. Sie funktionierte besser als eine aus Ranken geflochtene Hängetrage, in der man früher die Verwundeten von den Schlachtfeldern geholt hatte.
Die sieben Eulen – die Viererbande, Coryn, Doktor Schönschnabel und Madame Plonk – nahmen Morgengrau in die Mitte. Der Bartkauz schlug ab und zu schwach mit den Flügeln.
Beim Losfliegen drehte sich Gylfie noch einmal nach Gyllban um. Die schöne Wölfin war auf einen Berg geklettert, den man die Großen Federohren nannte. Seine beiden Gipfel ragten wie die langen Federohren eines Uhus empor. Auf einem dieser Gipfel harrte die Wölfin nun schon seit letzter Nacht aus. Wie ein Wachposten behielt sie den sogenannten Sternenpfad im Auge, der zur Höhle der Seelen führte. So nannten die Wölfe ihr Glaumora.
Gyllban wartete auf das „Lochinmorrin“, das war der Zeitpunkt, zu dem
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