Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
die in der grauen Morgendämmerung weit draußen Muscheln ernteten, bevor die Flut die Bänke wieder überschwemmte. Diese und noch ein Dutzend mehr besuchten wir, bis Veritas uns plötzlich in unsere eigenen Körper zurückversetzte. Ich fühlte mich wirr im Kopf wie ein kleiner Junge, der von seinem Vater hochgehoben wurde, um das gesamte Chaos des Jahrmarkts zu überblicken, bevor er sich auf seinen eigenen Füßen wiederfindet und auf seiner Ebene der Knie und Beine.
Ich trat zum Fenster und stellte mich neben Veritas. Er starrte noch immer über das Meer zum Horizont. Plötzlich verstand ich seine Karten und weshalb er sie zeichnete. Das Geflecht der Leben, das er für mich kurz berührt hatte – es war, als hätte er die Hand geöffnet und mir die unvergleichlich kostbaren Juwelen gezeigt, die er darin barg. Menschen. Sein Volk. Nicht für eine felsige Küste oder saftiges Weideland hielt er Wache. Es waren diese Menschen, diese schillernde Vielfalt anderer Leben, von ihm ungelebt, aber dennoch herzlich geliebt. Einen Moment lang teilte ich seine Verwunderung, daß irgend jemand den Wunsch haben könnte, diesen Menschen Leid zuzufügen, und ich teilte auch seine grimmige Entschlossenheit, daß den Roten Korsaren kein einziges dieser Leben mehr zum Opfer fallen sollte.
Das Schwindelgefühl verging, die Welt kam ins Gleichgewicht. Es war still. Veritas sprach, ohne mich anzusehen. »Nun? Geht es auf die Jagd?«
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnten. »Ja. Die Entfremdeten sind näher, als wir vermuteten.«
»Rechnest du mit einem Kampf?«
»Ihr habt mir geraten, auf alles vorbereitet zu sein. Erst werde ich einen Versuch mit Gift machen, aber möglicherweise sind sie nicht mehr so ausgehungert, daß sie wahllos alles herunterschlingen. Oder sie versuchen trotz allem, mich anzugreifen. Für den Fall habe ich lieber mein Schwert an der Seite.«
»Das habe ich mir gedacht. Aber nimm lieber dieses.« Er hob vom Boden neben seinem Stuhl ein Schwert mit Scheide auf und legte es mir in die Hände. Im ersten Augenblick war ich sprachlos und konnte es nur anstarren. Das Leder war reich verziert, das Heft besaß jene rare kunstvolle Kunstlosigkeit, die nur Waffen und Werkzeugen aus der Hand eines Meisters eigen ist. Veritas gestattete mir mit einem Kopfnicken, in seiner Gegenwart die Klinge zu entblößen. Im Licht vom Fenster her glänzte sie hell, das Hämmern und Falten, das ihr Härte und Biegsamkeit gegeben hatte, manifestierte sich als moireartiges Schillern auf dem blanken Metall. Ich hielt die herrliche Waffe waagerecht am ausgestreckten Arm und fühlte sie in meiner Hand, schwerelos, wartend – ein viel besseres Schwert, als meine Fechtkünste rechtfertigten. »Natürlich sollte ich es dir im Rahmen einer angemessenen Zeremonie überreichen, doch ich gebe es dir jetzt schon, um zu verhindern, daß du, weil es dir fehlte, von deiner Jagd nicht mehr zurückkehrst. Beim Winterfest werde ich es von dir zurückverlangen, um die Zeremonie nachzuholen.«
Ich stieß es in die Scheide zurück und zog es wieder heraus, so schnell und seidig wie ein zischendes Atemholen. Nie zuvor hatte ich etwas derartig meisterlich Gefertigtes besessen. »Mir ist, als müßte ich einen Eid darauf leisten«, meinte ich unsicher.
Veritas gestattete sich ein Lächeln. »Unzweifelhaft würde Edel größten Wert darauf legen. Was mich angeht, ich glaube nicht, daß mir ein Mann noch sein Schwert zu Füßen legen muß, nachdem er mir bereits Treue geschworen hat bis in den Tod.«
Bevor das schlechte Gewissen mir den Mund verschließen konnte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. »Hoheit, mein Prinz, ich gehe heute hinaus, um Euch als Assassine zu dienen.«
Veritas war sichtlich betroffen. »Klare Worte«, meinte er vorsichtig.
»Es ist Zeit für klare Worte, denke ich. Heute diene ich Euch in dieser Eigenschaft, aber mein Herz ist dessen müde geworden. Wie Ihr sagt, ich habe euch Treue geschworen, und wenn Ihr es befiehlt, muß ich fortfahren wie bisher. Doch ich bitte Euch, findet eine andere Möglichkeit, wie ich Euch dienen kann.«
Veritas schwieg, wie es mir vorkam, eine Ewigkeit. Er stützte das Kinn auf die Faust und seufzte. »Wäre nur ich es, dem du Treue geschworen hast, könnte ich vielleicht unter Umständen schnell und einfach antworten. Aber ich bin nur König-zur-Rechten. Dieses Anliegen mußt du deinem Souverän vortragen. Wie auch deine Bitte, dich vermählen zu dürfen.«
Die Stille, die sich
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