Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Listenreich, wählte die Methode der Askese und Kasteiung, um die inneren Barrieren eines Schülers niederzureißen. Reduziert auf eine Ebene kraftloser Unterwürfigkeit, war der Schüler empfänglich für Galens Manipulation seines Bewußtseins und seine Technik der Ausübung der Gabe. Obwohl die Schüler, die die Tortur überstanden und schließlich seine Kordiale bildeten, alle zuverlässig von der Gabe Gebrauch machen konnten, verfügte keiner von ihnen über ein besonders großes Potential. Galen brüstete sich vor Zeugen mehrmals, aus unwertem Material brauchbare Werkzeuge geschmiedet zu haben. Aber vielleicht ging er auch den umgekehrten Weg und verwandelte Gold in Blei.
Interessant ist ein Vergleich von Galens Methode mit der von Solizitas, Gabenmeisterin vor ihm. Von ihr erhielten die jungen Prinzen Chivalric und Veritas die grundlegende Ausbildung. Aus Veritas’ Berichten über diese Zeit geht hervor, daß sie durch sanfte Beeinflussung und Einfühlungsvermögen erreichte, daß ihre Schüler sich ihr öffneten. Sowohl Veritas als auch Chivalric gingen aus ihrer Edukation als starke und fähige Nutzer der Gabe hervor. Unglücklicherweise starb sie, bevor das letzte Stadium der Ausbildung beendet war und bevor Galen den Wanderstatus als Gabenlehrer erreichte. Man muß sich fragen, wieviel Wissen mit ihr ins Grab gesunken ist und welche Möglichkeiten dieser königlichen Magie für immer dem Vergessen anheimgefallen sind.
Ich hielt mich an jenem Morgen nur kurz in meinem Schlafgemach auf. Das Feuer war erloschen, aber die Kälte, die ich empfand, war nicht allein die eines ungewärmten Zimmers. Dieser Raum war die leere Hülle eines Lebens, das ich bald hinter mir zu lassen dachte. Beides, das Zimmer und das Leben, erschienen mir öder als je zuvor. Ich wusch mich fröstelnd mit dem kalten Wasser aus dem Krug und nahm mir endlich die Zeit, die Verbände an Hals und Arm zu erneuern. Es war nicht mein Verdienst, daß die Wunden so sauber aussahen. Sie heilten gut.
Ich kleidete mich warm: ein wattiertes Hemd, Mitbringsel aus den Bergen, unter einem dicken Lederwams, dazu eine Überhose, ebenfalls aus Leder, mit Riemen eng an die Beine geschnürt. An Waffen nahm ich mein altes Schwert mit sowie einen kurzen Dolch. Zusätzlich steckte ich aus meinen Vorräten einen kleinen Topf mit gemahlener Todeskappe ein. Trotz allem fühlte ich mich ungeschützt und überdies töricht, als ich mein Gemach verließ.
Veritas’ Befehl vom Abend zuvor folgend, begab ich mich geradewegs zu seinem Turm. Ich vermutete, er wollte mit mir an der Gabe arbeiten, doch irgendwie mußte ich ihn überzeugen, daß es heute wichtiger war, Jagd auf Entfremdete zu machen. Fast lief ich die Treppe hinauf und wünschte mir, dieser Tag wäre vorüber. Mein ganzes Leben war einzig auf den Moment ausgerichtet, in dem ich König Listenreich zu Füßen fallen und ihn bitten konnte, Molly heiraten zu dürfen. Allein der Gedanke an sie erfüllte mich mit einer derart verwirrenden Mischung bisher unbekannter Empfindungen, daß mein Schritt immer langsamer wurde, während ich versuchte, sie alle zu ergründen. Dann gab ich es als sinnlos auf. »Molly«, sagte ich leise vor mich hin. Wie ein magisches Wort bestärkte es mich in meinem Entschluß und spornte mich an. Oben angekommen, klopfte ich diesmal laut an die Tür.
Veritas’ Aufforderung hereinzukommen, fühlte ich mehr, als daß ich sie hörte. Ich trat ein.
Ein Tableau. Veritas saß vor dem offenen Fenster auf seinem alten Armlehnstuhl. Seine Hände lagen müßig auf dem Sims, sein Blick war unverwandt auf den fernen Horizont gerichtet. Die Morgenkühle hatte seine Wagen gerötet, der Wind wühlte in seinem schwarzen Haar. Bis auf die leichte Brise vom Fenster her war es im Zimmer ruhig und still, doch mir kam es vor, als würde ich von einem Wirbelsturm erfaßt. Veritas’ Bewußtsein umbrandete mich, sog mich ein, und zusammen mit seinen Gedanken und seiner Gabe wurde ich weit aufs Meer hinausgetragen. Er nahm mich mit auf seiner schwindelerregenden Reise zu jedem Schiff innerhalb seines geistigen Gesichtskreises. Hier streiften wir die Gedanken eines Kapitäns auf einem Kauffahrer: ›… wenn der Preis stimmt, Öl als Rückfracht laden…‹ und waren schon bei einer Netzflickerin, die die Ahle fliegen ließ und leise murrte, als der Maat sie anfuhr, bei der Arbeit nicht zu feiern. Wir fanden einen Steuermann, der sorgenvoll an sein schwangeres Weib zu Hause dachte, und drei Familien,
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