Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Herz schlägt. Andernfalls, was hätte es für einen Sinn, sich jeden Morgen zu erheben?«
»Narr, das ist zu hoch für mich«, wehrte ich unbehaglich ab. Ich hatte ihn nie so leidenschaftlich erlebt, ihn nie so offen reden gehört. Es war, als hätte ich in den verkohlten Holzresten eines erloschenen Feuers gestochert und plötzlich die Glut unter der Asche gefunden. Es brannte zu hell.
»Nein, Fitz. Ich bin zu dem Schluß gekommen, es ist durch dich.« Er tippte mir mit Rätzel leicht gegen die Brust. »Schlußstein. Tor. Kreuzweg. Vermittler. All das bist du gewesen und wirst es weiterhin sein. Wann immer ich an die Gabelung gelange, wann immer die Spur sich verliert, wenn ich mit der Nase über den Boden stöbere und suche, treffe ich auf eine Witterung. Deine. Du erschaffst Möglichkeiten. Während du existiert, läßt sich die Zukunft formen. Deinetwegen bin ich hergekommen, Fitz. Du bist der Faden, an dem ich zupfe. Einer davon jedenfalls.«
Eine plötzliche Vorahnung ließ mich frösteln. Was immer er noch zu sagen hatte, ich wollte es nicht hören. Irgendwo, weit entfernt, erhob sich ein dünnes Heulen. Die Stimme eines Wolfs zur Mittagsstunde. Jedes Haar an meinem Körper richtete sich auf. »Du hast deinen Spaß gehabt«, sagte ich und lachte gezwungen. »Ich hätte es besser wissen müssen, als von dir ein wirkliches Geheimnis zu erwarten.«
»Du. Oder nicht du. Achsnagel. Anker. Knoten im Garn. Ich habe das Ende der Welt gesehen, Fitz. So deutlich eingewoben gesehen wie meine Geburt. Oh, nicht innerhalb deiner Lebensspanne, auch nicht in meiner. Aber ist es ein Glück zu wissen, daß wir in der Abenddämmerung leben, statt in der finsteren Nacht? Ist es ein Grund zur Freude, daß wir nur leiden, während eure Nachfahren die Qualen der Verdammten erdulden werden? Soll das der Grund sein, weshalb wir nicht handeln?«
»Narr, ich will das nicht hören.«
»Du wurdest nicht gezwungen. Dreimal hast du deinen Wunsch wiederholt, und nun ist es zu spät, die Ohren zu verschließen.« Er hob den Stab wie ein General und sprach, als stünde er vor dem Rat der Herzöge. »Der Fall des Königreichs der Sechs Provinzen war der Stein, der die Lawine löste. Von dort breiteten sich die Seelenlosen aus wie ein Blutfleck auf der Welt bestem Hemd. Die Dunkelheit ist eine alles verschlingende Macht und erst gesättigt, wenn sie sich aus sich selber nährt. Und nur, weil das Geschlecht der Weitseher erloschen ist. Das ist die Zukunft, wie sie gewoben ist. Doch warte! Weitseher?« Er legte den Kopf schräg und betrachtete mich wie eine Aaskrähe. »Weshalb nennt man dich so, Fitz? Was haben deine Ahnen jemals weit vorhergesehen, um sich diesen Namen zu verdienen? Soll ich dir sagen, wie es dazu kommt? Es ist die Zukunft, die aus der Tiefe der Zeit zu dir zurückgreift und dich bei dem Namen nennt, den dein Geschlecht eines Tages verdienen wird. Die Weitseher. Das war der Hinweis, den ich mir zu Herzen nahm. Daß die Zukunft zu dir zurückreichte, zu dem Punkt, wo euer Weg sich mit dem meinen kreuzt, und dir diesen Namen gab. Ich kam her, und was entdeckte ich? Einen Weitseher ohne Namen. Nirgends verzeichnet, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Aber ich habe erlebt, wie du dir einen Namen genommen hast. FitzChivalric Weitseher. Und ich werde dafür sorgen, daß du ihn verdienst.« Er trat an mich heran und legte mir die Hände auf die Schultern. »Wir sind hier, Fitz, du und ich, um den Lauf der Welt zu verändern. Um mit all unserer Kraft den kleinen Stein an Ort und Stelle zu halten, ohne den der gewaltige Felsblock mit verheerender Gewalt zu Tal stürzen würde.«
»Nein.« Eine schwarze Kälte stieg in mir empor und schüttelte mich. Meine Zähne klapperten, und die gleißenden Lichtpunkte tanzten am Rand meines Gesichtsfeldes. Ein Anfall. Jetzt, hier, vor den Augen des Narren. Der Gedanke war mir unerträglich. »Geh!« schrie ich. »Geh weg! Sofort! Schnell, schnell!«
Noch nie hatte ich den Narren erstaunt gesehen. Ihm blieb tatsächlich der Mund offenstehen, man sah seine kleinen weißen Zähne und die blasse Zunge. Für einen Moment gruben sich seine Finger in meine Schultern, dann ließ er mich los. Mir war gleichgültig, was er über mein seltsames Benehmen dachte. Ich riß die Tür auf, wies mit dem ausgestreckten Arm auf den Gang hinaus, und er war fort. Hinter ihm schob ich den Riegel vor, taumelte zu meinem Bett und fiel der Länge nach auf die Kissen. »Molly!« rief ich, »Molly, hilf
Weitere Kostenlose Bücher