Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
mir!« Aber ich wußte, sie konnte mich nicht hören, und ich sank allein in die aufbrandende Finsternis.
Der Schein von hundert Kerzen. Girlanden aus Immergrün, Stechpalmensträuße und kahle schwarze Winterzweige, behängt mit glitzerndem Zuckerwerk zur Freude von Augen und Gaumen. Das Klappern der hölzernen Schwerter der Marionetten und das Jauchzen der Kinder, als dem Scheckigen Prinzen tatsächlich der Kopf abgeschlagen wurde und in hohem Bogen über die Zuschauer flog. Samtens zu einem Trinklied weit geöffneter Mund, während seine Finger wie selbständig über die Saiten der Harfe tanzten. Ein Schwall kalter Luft, als die Türen der großen Halle sich öffneten, um einen weiteren Trupp festlich gestimmter Gäste einzulassen. Die langsam dämmernde Erkenntnis, daß dies kein Traum war, dies war das Winterfest, und ich wanderte, von einer milden Glückseligkeit erfüllt, durch das vergnügte Treiben, lächelte in Gesichter und nahm keines wahr. All meine Bewegungen waren langsam, ich fühlte mich wie eingehüllt in frischgezupfte Wolle, trieb dahin wie ein unbemanntes Segelboot an einem windstillen Tag. Eine wunderbare Schläfrigkeit erfüllte mich. Jemand berührte meinen Arm. Ich drehte mich um. Burrich, stirnrunzelnd, der mich etwas fragte. Seine tiefe Stimme, fast eine Farbe, die von ihm zu mir flutete, wenn er sprach. »Alles ist gut«, versicherte ich ihm. »Keine Sorge, alles ist gut.« Ich schwebte weiter, den Strömungen der Menge folgend.
König Listenreich saß auf seinem Thron, aber ich wußte jetzt, er war aus Papier gemacht. Der Narr saß zu seinen Füßen und hielt sein Rattenzepter umklammert wie ein Kind seine Rassel. Seine Zunge war ein Schwert, und wenn des Königs Feinde sich dem Thron näherten, schnitt er sie in Stücke und hielt sie fern von dem Papiermann mit der Krone.
Veritas und Kettricken auf einem zweiten Hochsitz, so niedlich wie die Puppe des Narren, alle beide. Ich sah sie an und merkte, sie bestanden aus nichts als Hunger nach diesem und jenem, Gefäße, aus Leere geschaffen. Edel trat heran und sprach mit ihnen, und er war ein großer schwarzer Vogel, keine Krähe, nein, nicht so fidel wie eine Krähe, und auch kein Rabe. Er besaß nicht die verschmitzte Schläue eines Raben. Nein, ein elender Leichenfledderer von einem Vogel, der sie umkreiste, belauerte; für ihn waren sie Aas, an dem er sich gütlich tun wollte. Er verbreitete Aasgeruch, ich hielt mir die Hand vor Mund und Nase und entfernte mich von ihnen.
Ich setzte mich ans Feuer, neben eine kichernde Dirne in blauen Röcken. Sie zwitscherte wie ein Eichhörnchen, und ich lächelte sie an, und bald lehnte sie an meiner Schulter und sang ein komisches kleines Lied über drei Milchmädchen. Die anderen, die um den Kamin standen, fielen ein. Am Schluß lachten wir alle, aber ich wußte genau, warum. Und ihre warme Hand lag wie zufällig auf meinen Schenkel.
Bruder, bist du von Sinnen? Hast du schlechten Fisch gefressen, verbrennt dich ein Fieber?
»Wie?«
Der Verstand ist getrübt. Deine Gedanken sind blutleer und schwach. Du bewegst dich wie ein Rehbock im hohen Schnee.
»Ich fühle mich gut.«
»Wirklich, Herr? Dann fühle ich mich auch gut.« Sie blickte lächelnd zu mir auf. Rundes kleines Gesicht, dunkle Augen, lockiges Haar, das sich unter ihrer Haube hervorkräuselte. Veritas hätte Gefallen an ihr gefunden. Sie streichelte mir kameradschaftlich das Bein. Ein Stückchen weiter oben als vorher.
»FitzChivalric!«
Ich hob träge den Blick. Philia stand vor mir, Lacey neben sich. Wie schön, sie hier zu sehen. Sie kam viel zu selten aus ihren Gemächern hervor, um sich unter das Volk zu mischen. Besonders im Winter. Der Winter war eine harte Zeit für sie. »Ich bin so froh, wenn wieder Sommer ist und wir zusammen im Garten Spazierengehen können«, sagte ich zu ihr.
Einen Moment schaute sie mich schweigend an. »Ich habe etwas Schweres, das zu meinen Gemächern hinaufgetragen werden müßte. Würdest du mir helfen?«
»Gewiß.« Ich stand vorsichtig auf. »Ich muß gehen«, erklärte ich der kleinen Dienstmagd. »Meine Mutter braucht mich. Dein Lied hat mir gefallen.«
»Auf Wiedersehen, Herr«, zirpte sie, und Lacey warf ihr darob einen vernichtenden Blick zu. Philias Wangen hatten sich rosig gefärbt. Ich folgte ihr durch Ebbe und Flut der Feiernden bis zum Fuß der Treppe.
»Ich weiß nicht mehr, wie man die Stufen hinaufsteigt«, sagte ich bedauernd. »Und wo ist die schwere Last, die ich nach
Weitere Kostenlose Bücher