Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
einem zum anderen.
Veritas verbeugte sich tief, förmlich, und Kettricken folgte seinem Beispiel mit einem Hofknicks. Ich nahm ihr Betragen als Fingerzeig, ließ mich auf ein Knie nieder und verharrte so, mit gesenktem Kopf. Trotzdem brachte ich es fertig, aus den Augenwinkeln das weitere Geschehen zu verfolgen. Veritas ergriff das Wort: »Herr Vater, mein König – ich komme, um Eure Erlaubnis für ein Unterfangen zu erbitten, das ich plane.«
»Worum handelt es sich dabei?«
Veritas begegnete dem forschenden Blick seines Vaters. »Mein Plan ist, mit einem Trupp ausgewählter Männer von Bocksburg aufzubrechen und derselben Route zu folgen wie König Weise seinerzeit. Ich habe vor, in diesem Winter in die Regenwildnis jenseits des Bergreichs zu reisen, um die Uralten zu suchen und sie zu bitten, das Versprechen zu halten, das sie unseren Vorfahren gegeben haben.«
Ein ungläubiger Ausdruck trat auf Listenreichs Gesicht. Er schlug die Decken zurück und schwang die dünnen Beine über die Bettkante. »Narr, hol uns Wein. Fitz, steh auf und hilf ihm. Kettricken, Tochter, deinen Arm, wenn es dir recht ist, um mir zu diesem Stuhl am Kamin zu helfen. Veritas, bring den kleinen Tisch her, der neben dem Fenster steht. Bitte.«
Mit seinen Anweisungen durchbrach König Listenreich die steife Atmosphäre. Kettricken half ihm mit einer Vertrautheit, die eine echte Zuneigung zu dem alten Mann verriet. Der Narr flitzte zum Schrank im Tageszimmer, um Gläser zu holen, mir blieb es überlassen, einen Wein aus dem kleinen Vorrat zu wählen, den König Listenreich in seinen Gemächern aufbewahrte. Die Flaschen waren staubbedeckt, als wäre lange keine mehr davon geöffnet worden. Argwöhnisch fragte ich mich, als welcher Quelle Wallace ihm zu trinken reichte. Wenigstens stellte ich fest, daß der Raum sonst in Ordnung war, ein erheblicher Fortschritt gegenüber den Zuständen vor dem Winterfest. Die Räuchergefäße, die mich sehr beunruhigt hatten, standen leer und kalt in der Ecke. Und heute Abend schien der König noch ganz er selbst zu sein.
Der Narr half seinem Herrn in ein dickes, wollenes Gewand und kniete nieder, um ihm die Pantoffeln an die Füße zu ziehen. Listenreich setzte sich auf seinen gepolsterten Lehnstuhl am Feuer und stellte sein Weinglas auf den Tisch neben sich. Älter. Viel älter. Aber vor mir saß wieder der Herrscher der Sechs Provinzen, dem ich in meiner Jugend so oft Bericht erstattet hatte. Plötzlich wünschte ich mir, ich könnte heute abend derjenige sein, der sein Anliegen vorbrachte. Dieser alte Mann mit den wachen Augen hätte vielleicht ein offenes Ohr für meinen Wunsch, Molly zu heiraten. Erneut überkam mich Zorn auf Wallace, wegen der Gewohnheiten, zu denen er den König verführt hatte.
Aber dies war nicht mein Abend. Trotz der familiären Ungezwungenheit des Königs wirkten Veritas und Kettricken angespannt. Der Narr und ich brachten Stühle, damit sie links und rechts von Listenreich Platz nehmen konnten. Ich stellte mich hinter Veritas und wartete. »Laß hören«, forderte Listenreich seinen ältesten Sohn auf. »Und fasse dich kurz.« Veritas gehorchte. Nacheinander wurden Kettrickens Pergamente entrollt und die entsprechenden Passagen vorgelesen. Die alte Landkarte wurde genauestens studiert. Anfangs beschränkte Listenreich sich darauf, Fragen zu stellen, und enthielt sich jeglichen Kommentars, bis er sicher sein konnte, alle Informationen erhalten zu haben.
Der Narr stand neben ihm und vertrieb sich die Zeit damit, Veritas’ Pagen schaurige Grimassen zu schneiden, um dem wie versteinerten Knaben wenigstens ein Lächeln abzuringen. Er dürfte dem Ärmsten noch mehr Angst eingejagt haben. Rosemarie vergaß, wo sie sich befand, und wanderte davon, um mit den Quasten der Bettvorhänge zu spielen.
Nachdem Veritas zu Ende gesprochen und Kettricken erklärende Bemerkungen zu seinem Vortrag abgegeben hatte, lehnte der König sich zurück. Er trank den letzten Schluck aus seinem Glas und hielt es dem Narren zum Nachschenken hin. Gedankenvoll nippte er einmal, seufzte dann und schüttelte den Kopf. »Nein. An dieser Geschichte ist zuviel Unwägbares, als daß ich geneigt bin, dir meine Zustimmung zu geben. Was du mir gezeigt hast, genügt, um mich zu der Überzeugung zu bringen, es könnte sich lohnen, einen Gesandten dorthin zu schicken. Einen Mann deiner Wahl, mit angemessenem Gefolge, Geschenken und Briefen von dir und mir, um zu betonen, daß er in unserem Auftrag spricht. Aber
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