Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
muß der Souverän sein, das Herz des Königreichs, die Nabe des Rades. Ist er das, und wenn du glaubst, daß die Sechs Provinzen es wert sind, erhalten zu werden, daß es dem Wohl unseres Volkes dient, den Richtspruch des Königs zu vollstrecken, dann, nun ja.«
»Dann kannst du für ihn töten.«
»Richtig.«
»Hast du je wider besseres Wissen getötet?«
»Du stellst viele Fragen heute nacht.« Chades Tonfall mahnte zur Vorsicht.
»Vielleicht hast du mich zu lange allein gelassen, so daß ich Muße hatte, über dies und jenes nachzugrübeln. Früher, als wir jede Nacht beschäftigt waren, habe ich nicht soviel nachgedacht. Aber jetzt tue ich es.«
Er nickte langsam. »Denken ist nicht immer – angenehm. Es ist immer gut, aber nicht immer angenehm. Ja. Ich habe wider besseres Wissen getötet. Auch da eine Frage des Glaubens. Ich mußte glauben, daß diejenigen, die den Befehl gaben, klüger waren als ich, Zusammenhänge besser durchschauten.«
Ich schwieg ziemlich lange, und Chades Haltung entspannte sich. »Komm herein, bleib nicht im Durchzug stehen. Trinken wir ein Glas Wein zusammen, und dann muß ich mit dir über…«
»Hast du je aus eigenem Ermessen getötet? Zum Wohl des Königreichs?«
Chade musterte mich eine Weile stumm. Ich hielt seinem Blick stand. Schließlich war er es, der die Augen niederschlug und seine Altmännerhände betrachtete, die pergamentene Haut, die grellroten Brandnarben. »Ich bin nicht derjenige, der das Urteil über Tod und Leben fällt.« Er hob den Kopf und schaute mich wieder an. »Die schwere Bürde dieser Verantwortung zu übernehmen – danach habe ich nie gestrebt. Es ist nicht an uns, Junge. Solche Entscheidungen zu treffen, obliegt dem König.«
»Ich heiße nicht ›Junge‹«, hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen, »ich bin FitzChivalric.«
»Mit der Betonung auf dem Fitz.« Chades Ton war scharf. »Du bist der illegitime Sproß eines Mannes, der darauf verzichtet hat, König zu werden. Er hat abgedankt. Und hat damit das Recht verloren, Urteile zu fällen. Du bist nicht König, Fitz, nicht einmal der Sohn eines wahren Königs. Wir sind Assassinen.«
»Warum stehen wir daneben, während der wahre König vergiftet wird?« fragte ich geradeheraus. »Ich sehe es, du siehst es. Unter dem Vorwand, ihm Linderung und Heilung zu bringen, macht man ihn schrittweise abhängig von Mitteln, die seinen Verstand lähmen. Wir wissen, wer ihm die Drogen verabreicht, und ich glaube zu wissen, wer dahintersteckt. Und trotzdem rühren wir keinen Finger, während er mehr und mehr verfällt. Warum? Wie verträgt sich das mit deinem Glauben?«
Sein Worte trafen mich wie ein Messer. »Ich weiß nicht, an wen du glaubst. Ich dachte, vielleicht an mich. Daß ich mehr weiß als du, daß ich meinem König treu ergeben bin.«
Diesmal schlug ich vor seinem Blick die Augen nieder. Bevor das Schweigen zwischen uns unüberbrückbar werden konnte, ging ich zu dem Schrank, in dem Chades Wein und die Becher standen. Ich nahm ein Tablett, füllte zwei Pokale aus der mit einem Glasstöpsel verschlossenen Flasche und trug alles zu dem kleinen Tisch beim Feuer. Wie es in den vielen Jahren zur Gewohnheit geworden war, setzte ich mich auf die Steinplatten vor dem Kamin. Nach einer Weile kam mein Lehrer und nahm seinen Platz in dem weich gepolsterten Lehnstuhl ein. Er hob einen der Becher und trank einen Schluck.
»Dieses letzte Jahr ist an uns beiden nicht spurlos vorübergegangen.«
»Du hast mich so selten gerufen. Und wenn du es tust, bist du voller Geheimnisse.« Ich konnte nicht verhindern, daß sich ein vorwurfsvoller Ton in meine Stimme schlich.
Chade stieß ein kurzes Lachen aus. »Und das kränkt dich, du Ausbund an Offenherzigkeit!« Er lachte wieder, ohne sich von meiner beleidigten Miene stören zu lassen. Als er sich beruhigt hatte, befeuchtete er mit einem Schluck Wein seine Kehle und schaute mich an: Belustigung flimmerte in seinen Augen.
»Mach kein so finsteres Gesicht, Junge«, sagte er. »Ich habe nicht von dir verlangt, was du von mir nicht doppelt und dreifach gefordert hättest. Denn ich hänge der altmodischen Vorstellung an, daß ein Lehrer das Recht hat, von seinem Schüler Vertrauen zu erwarten.«
»Es stimmt«, gab ich zu. »Ich habe auch meine Geheimnisse und von dir verlangt, daß du mir vertraust, ohne Fragen zu stellen. Doch meine Geheimnisse schränken nicht deine Handlungsfreiheit ein, wie deine es bei mir tun. Jedesmal, wenn ich dem König
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