Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
es etwas, das Ihr gerne mit Euch nehmen möchtet?«
Er schluckte mühsam. Dann richtete er den Blick auf mein Gesicht. »Nein. Mein Junge, hier ist nichts mehr für mich. Nichts, das ich vermissen werde, nichts, das das Bleiben lohnt.« Er schloß die Augen und sprach sehr leise. »Ich habe meine Meinung geändert, Fitz. Ich denke, ich werde hierbleiben und in meinem eigenen Bett sterben, heute nacht.«
Der Narr und ich waren beide für einen Moment sprachlos. »Majestät«, sagte ich dann beschwörend, »Ihr seid nur müde.«
»Ja, müde. Seit langem, und ich werde immer müder.« Seine Augen blickten seltsam klar. Der Knabenkönig, den ich kurz berührt hatte, als ich mit seiner Hilfe ›dachte‹, schaute mich aus dieser schmerzgepeinigten Hülle an. »Mein Körper versagt mir den Dienst. Mein Sohn ist zur Natter geworden. Edel weiß, daß sein Bruder lebt. Er weiß, daß die Krone, die er trägt, nicht ihm gebührt. Ich dachte nicht, daß er… Ich glaubte, im letzten Augenblick würde er sich besinnen…« Tränen rannen über seine gefurchten Wangen. Ich hatte meinen König vor einem ungetreuen Prinzen retten wollen. Ich hätte wissen müssen, daß es unmöglich ist, einen Vater vor dem Verrat seines Sohnes zu bewahren. Er streckte mir die Hand entgegen, eine Hand, die einst kraftvoll einen Schwertgriff umspannt hatte und nun zu einer knochigen, gelblichen Kralle abgemagert war. »Ich möchte Veritas Lebwohl sagen. Er soll von mir erfahren, daß ich nicht gewollt habe, was geschehen ist. Laß mich wenigstens das noch für einen Sohn tun, der mir immer die Treue gehalten hat.« Er wies auf den Platz zu seinen Füßen. »Komm, Fitz. Bring mich zu ihm.«
Gegen diesen Befehl gab es keinen Widerspruch. Ich zögerte nicht und kniete nieder. Der Narr stand hinter dem König, Tränen zogen graue Bahnen durch die weiße und schwarze Farbe auf seinem Gesicht. »Nein«, sagte er drängend, »Majestät, erhebt Euch, verstecken wir uns. Dann könnt Ihr Euren Entschluß überdenken. Ihr braucht Euch nicht jetzt zu entscheiden.«
Listenreich hörte nicht auf ihn. Er legte mir die Hand auf die Schulter, und ich öffnete ihm den Born meiner Kraft. Endlich hatte ich gelernt, es willkürlich zu tun, doch freuen konnte ich mich nicht darüber. Gemeinsam tauchten wir in den schwarzen Gabenfluß und drehten uns m der Strömung, während ich darauf wartete, daß er die Richtung angab. Statt dessen umarmte er mich plötzlich. Sohn meines Sohnes, Blut von meinem Blut. Auf meine Art habe ich dich geliebt.
Mein König.
Mein junger Assassine. Was habe ich aus dir gemacht? Wie habe ich mein eigen Fleisch entstellt. Du weißt nicht, wie jung du noch bist. Chivalrics Sohn, es ist nicht zu spät, um noch gerade in die Höhe zu wachsen. Hebe deinen Kopf. Sieh über das Gegenwärtige hinaus.
Ich hatte mein Leben damit verbracht zu werden, was ich nach seinem Wunsch werden sollte. Diese Worte jetzt erfüllten mich mit Verwirrung und Fragen, die zu beantworten keine Zeit mehr war. Ich konnte spüren, wie seine Kräfte nachließen.
Veritas, flüsterte ich, um ihn zu erinnern.
Er reichte hinaus, und ich gab ihm Kraft dazu. Ich fühlte die Berührung von Veritas’ Gegenwart und dann ein plötzliches Schwinden des Königs. Ich folgte ihm, wie man einem Ertrinkenden in tiefem Wasser hinterhertaucht. Ich griff nach seinem Bewußtsein, hielt es fest, doch es war, als versuchte man einen Schatten zu fassen. Er war ein Knabe in meinen Armen, voller Angst, als er sich gegen etwas sträubte, das er nicht kannte.
Dann war er fort.
Ich hatte geglaubt, etwas von der Zerbrechlichkeit des Lebens zu begreifen, als ich das tote Kind in den Armen gehalten hatte. Nun wußte ich es genau. Hier und dann nicht hier. Selbst eine gelöschte Kerze hinterläßt einen Rauchfaden. Mein König war einfach nicht mehr.
Trotzdem war ich nicht allein.
Ich glaube, jedes Kind dreht einen im Wald gefundenen toten Vogel um und ist entsetzt und voller Ekel über das Gewimmel der Maden an der Unterseite. Auf einem sterbenden Hund sitzen die meisten Flöhe und werden die Zecken am fettesten. Justin und Serene, wie Blutegel, die von einem unergiebigen Wirt ablassen, erhoben sich und versuchten, sich an mir festzusaugen. Dies also der Grund für ihre größere Kraft und die zunehmende Schwäche des Königs. Dies der Nebel, der seinen Verstand trübte und seine Tage mit Mattigkeit erfüllte. Galen, ihr Meister, hatte sich Veritas als Opfer auserkoren, doch er versagte und
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