Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
die königliche Familie. In Jhaampe würde ich früh aufstehen, um Wasser für den Haferbrei zu holen und abwechselnd mit den anderen im Kessel zu rühren. Keera und Sennick und Joffron und ich würden in der Küche schwatzen und lachen, und die Kleinen, die hin und her laufen, Feuerholz bringen und die Tische decken, plappern von tausend Dingen.« Ihre Stimme brach, und ich lauschte der Stille ihrer Einsamkeit.
Nach einer Weile sprach sie weiter. »Wenn es Arbeit zu tun gab, groß oder klein, griffen alle gemeinsam zu. Ich habe geholfen, die Zweige für eine Scheune zu biegen und zu binden. Selbst im tiefsten Winter habe ich Schnee geräumt und Hand angelegt, wenn es galt, neue Dachbögen für eine Familie aufzurichten, denen das Haus über den Köpfen abgebrannt war. Glaubst du, ein Opfer wäre nicht in der Lage, einen bösartigen alten Bären zu jagen, der sich darauf verlegt hat, Ziegen zu schlagen, oder mit an einem Tau zu ziehen, um eine vom Schmelzwasser bedrohte Brücke zu halten?« Als sie mich ansah, stand unverhohlener Schmerz in ihren Augen.
»Hier in Bocksburg achten wir darauf, das Leben unserer Königinnen nicht in Gefahr zu bringen«, entgegnete ich. »Andere Hände können ein Tau halten, wir haben Dutzende von Jägern, die um die Ehre streiten würden, einen Viehmörder zu töten. Doch wir haben nur eine Königin, und es gibt Dinge, die nur sie tun kann, kein anderer.«
Bei den Hofdamen auf der gepolsterten Bank waren wir so gut wie in Vergessenheit geraten. Ein Page hatte süße Kuchen und frisch gebrühten Tee gebracht. Sie plauderten und wärmten sich die Hände an den Tassen. Ich musterte sie, um mir einzuprägen, welche Frauen es ernst genommen hatten mit dem Dienst bei ihrer Königin – womöglich nicht immer das reine Vergnügen, wurde mir allmählich klar. Die kleine Rosemarie saß mit einem Kuchen in der Hand beim Teetisch auf dem Boden und träumte vor sich hin. In mir erwachte der Wunsch, auch wieder acht Jahre alt zu sein und mich zu ihr gesellen zu können.
»Ich weiß, wovon du sprichst«, sagte Kettricken offen. »Ich bin hier, um Veritas einen Erben zu schenken, eine Pflicht, der ich mich nicht entziehen will, denn ich sehe es nicht als Pflicht an, sondern als Freude. Nur weiß ich nicht, ob mein Gemahl ebenso denkt. Immer halten seine Pflichten ihn fern. Auch heute ist er dort unten und sieht zu, wie seine Schiffe Gestalt annehmen. Könnte ich ihn nicht begleiten, ohne mich in Gefahr zu bringen? Wenn nur ich seinen Erben empfangen kann, kann auch nur er ihn zeugen. Weshalb muß ich hier untätig sitzen, während er sich aufreibt, um unser Volk zu beschützen? Dabei sollte ich ihm zur Seite stehen, als das Opfer der Sechs Provinzen.«
Auch wenn ich mich während meines Aufenthalts dort an die freimütige Art der Bergbewohner gewöhnt hatte, schockierte mich, wie sie die Dinge beim Namen nannte. Vielleicht deshalb war ich bei meiner Antwort etwas zu geradeheraus. Ich stand auf, beugte mich an ihr vorbei aus dem Fenster, um die Läden zu schließen, und nutzte die Gelegenheit, um leise zu sagen: »Wenn Ihr glaubt, das ist die einzige Pflicht unserer Königinnen, befindet Ihr Euch im Irrtum, Hoheit. Um so offen zu sprechen, wie Ihr es getan habt, Ihr versäumt Eure Pflichten gegenüber Euren Hofdamen, die nur gekommen sind, um Euch Gesellschaft zu leisten und mit Euch zu plaudern. Denkt nach. Könnten sie nicht dieselbe Näharbeit in der Behaglichkeit ihrer eigenen Gemächer verrichten oder bei Mistress Hurtig? Ihr verzehrt Euch nach einer Beschäftigung, die Euch sinnvoll erscheint, doch Ihr könnt etwas tun, wozu der König selbst nicht imstande ist. Erfüllt den Hof von Bocksburg wieder mit Leben. Macht ihn zu einem glanzvollen Anziehungspunkt. Der Adel soll sich danach drängen, vor dem Angesicht des Königs-zur-Rechten erscheinen zu dürfen. Man soll es als Auszeichnung betrachten, ihn bei seinen Unternehmungen zu unterstützen. Es ist lange her, seit eine wirkliche Königin in dieser Burg herrschte. Statt auf ein Schiff hinunterzublicken, dessen Bau in fähigeren Händen liegt, widmet Euch der Aufgabe, die Euch angemessen ist, und bemüht Euch, sie zu erfüllen.«
Ich zog den Gobelin zurecht, der vor den geschlossenen Läden half, den kalten Atem der Stürme abzuhalten. Dann trat ich zurück und sah der Königin ins Gesicht. Zu meiner Bestürzung wirkte sie kleinlaut wie eine gescholtene Magd. Tränen standen in ihren hellblauen Augen, ihre Wangen waren rot, als hätte ich
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