Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
geschossen hätte. Sie verschwanden im Fisch- und Vogelgemach. Ob sie Verde entdeckten? Ich bezweifelte es.
Ich benutzte die Tür als Ausgang, durch die die Höflinge hereingekommen waren, und stand unversehens in einer großen Eingangshalle. Der Fußboden bestand aus Marmor; unvorstellbar, was es gekostet haben mußte, diese Masse Stein nach Fierant zu transportieren. Der Plafond hoch über mir trug ein Muster aus Feuillagegirlanden und -arabesken. Die Bogenfenster hatten Scheiben aus Ornamentglas, dunkel jetzt vor der Nacht draußen; aber dafür leuchteten die Bildteppiche zwischen ihnen in solcher Farbenvielfalt, als seien sie Fenster zu einer anderen Welt und Zeit. Beleuchtet wurde die Pracht von schillernd funkelnden Kristallkronleuchtern, die an vergoldeten Ketten von der Decke hingen. Hunderte Kerzen brannten darin. Statuen reihten sich an den Wänden, säumten in Abständen den Weg zwischen Portal und Treppe; dem Anschein nach handelte es sich um Edels Vorfahren mütterlicherseits. Trotz der Gefahr, in der ich schwebte, war ich einen Augenblick lang von der Grandeur des Raumes überwältigt. Dann hob ich den Blick und sah die breite Treppe, die nach oben führte. Dies war der Prunkaufgang aus dem großen Vestibül, nicht die Gesindestiege, die ich gesucht hatte. Zehn von Edels Schranzen hätten nebeneinander hinauf schreiten können, ohne sich ihre Rüschen und Spitzen zu zerdrücken. Die Geländer waren aus stark gemasertem Wurzelholz und schimmerten in einem satten dunklen Braun. Ein dicker Teppichläufer floß die Stufen hinab wie ein blauer Wasserfall.
Vorläufig war keine Menschenseele zu sehen. Ich verlor keine Zeit, sondern lief auf Zehenspitzen über den spiegelglatten Boden und die Prachttreppe hinauf. Ein spitzer Schrei ließ mich innehalten, offenbar hatte man Verde entdeckt. Auf dem ersten Absatz angelangt, hörte ich von rechts Stimmen und eilige Schritte näher kommen, also wandte ich mich nach links. Eine Tür verhieß Rettung. Ich preßte das Ohr dagegen, hörte nichts und schlüpfte auf gut Glück hindurch, viel schneller, als es sich erzählen läßt. Ich stand in dem dunklen Raum, mit hämmerndem Puls, und dankte Eda und El und allen Göttern, die es sonst noch geben mochte, daß die Tür nicht verschlossen gewesen war.
Von unten ertönten Rufe, und Stiefel polterten die Treppe hinunter. Eine Minute verging, dann hörte ich eine befehlsgewohnte Stimme Anweisungen geben. Ich stellte mich so hin, daß die sich öffnende Tür mich verdeckte, falls jemand hereinkam, und wartete. Meine Hände zitterten, und ich wagte kaum zu atmen. Angst durchflutete mich wie eine schwarze Woge. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen schwanken und ging schnell in die Hocke, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Alles drehte sich. Ich machte mich klein, schlang die Arme um den Leib und kniff die Augen zu, als würde ich dadurch unsichtbar. Eine zweite Welle der Angst spülte über mich hinweg. Kraftlos sank ich zur Seite, bis ich zusammengekrümmt auf dem Boden lag, ein stimmloses Winseln in der Kehle. Ich würde sterben. Ich würde sterben und sie niemals wiedersehen, nicht Molly, nicht Burrich, nicht meinen König. Der falsche Weg, der falsche Weg, ich hätte zu Veritas gehen sollen! Es drängte mich zu schreien und zu weinen, denn ich wußte plötzlich mit absoluter Gewißheit, daß es kein Entkommen gab. Man würde mich finden und mich töten, langsam, sehr langsam. Ich verspürte das beinahe unwiderstehliche Verlangen aufzuspringen und mit dem blanken Schwert in der Faust den Soldaten entgegenzustürmen, damit sie mich schnell töteten.
Ruhig, nimm dich zusammen. Sie versuchen, dich aus deinem Versteck zu treiben. Veritas’ Gabenstimme war leiser als ein Hauch. Ich biß mir auf die Lippen und war noch so weit bei Verstand, daß ich mich still verhielt und lauschte.
»Ich war ganz sicher«, sagte ein Mann.
»Nein. Der ist längst weg. Wenn sie ihn überhaupt finden, dann draußen irgendwo auf dem Gelände. Niemand hätte uns beiden standhalten können. Wäre er noch im Schloß, wäre er aus seinem Loch hervorgekommen.«
»Ich sage dir, da war etwas.«
»Das bildest du dir ein«, widersprach die andere Stimme zunehmend gereizt. »Ich habe nichts gespürt.«
»Vergewissere dich noch einmal.«
»Nein, reine Zeitverschwendung. Ich bin überzeugt, daß du dich geirrt hast.« Obwohl sie leise sprachen, war der Unmut des ersten Mannes nicht zu überhören.
»Ich würde deine Überzeugung gern teilen, aber
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