Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Schmerzen gesellte sich nun der pulsierende Druck hinter meiner Stirn, doch ich war zu müde, um aufzustehen und Tee zu kochen. Außerdem hatte ich keine Elfenrinde, nur die unerprobten Samen der Kräuterfrau aus Fierant. Ich genehmigte mir den Rest von Kujons Branntwein und legte mich wieder schlafen. Am Rand der Tiefe träumte ich von Wölfen, die durch die Nacht liefen. Ich weiß, daß du lebst. Ich werde zu dir kommen, wenn du mich brauchst. Rufe mich. Die Gedankenberührung war schwach, aber echt. Ich klammerte mich an diese Gewißheit wie an die Hand eines Freundes, während ich langsam in den Schlaf hinüberglitt.
Ich wanderte zu Fuß zum Blauen See, mit dem Wind als ständigem Begleiter. Er wehte Sand heran, allgegenwärtigen Sand. Das Szenario bestand aus Felsen und Geröll, raschelndem Gestrüpp mit ledrigen Blättern, niedrigen, dickblättrigen Sukkulenten, und weit voraus glänzte die Wasserfläche des großen Sees. Anfangs war die Piste nicht mehr als eine schrundige Narbe in der karstigen Oberfläche der Ebene, Hufabdrücke und die langen Grate der Wagengeleise abgeschliffen von dem ständig wehenden kalten Wind. Doch je näher ich dem See kam, desto grüner und freundlicher wurde die Gegend. Die Piste ähnelte immer mehr einer Straße. Der Wind brachte jetzt Regen, harten, prasselnden Regen, der wie Hagel meine Kleidung durchschlug. Ich wurde nie mehr richtig trocken.
Nach Möglichkeit vermied ich Kontakt mit den anderen Reisenden auf der Straße. Verbergen konnte ich mich nicht vor ihnen, aber ich tat mein Bestes, uninteressant und abweisend auszusehen. Reitende Boten galoppierten vorbei, die sich auf dem Weg nach Blauer See oder zurück nach Fierant befanden. Sie hatten keinen Blick für mich, aber das war nur ein schwacher Trost. Früher oder später würde jemand die unbestatteten Leichen von fünf Soldaten der königlichen Garde finden und sich wundern. Und die Geschichte von dem Bastard, der unerkannt ihr Reisebegleiter gewesen war, bis die Soldaten ihn mitten unter ihnen ergriffen, war zu großartig, als daß Creece oder Merle darauf verzichten würden, sie nach besten Kräften zu verbreiten.
Je näher ich Blauer See kam, desto reger wurde der Verkehr auf der Straße, und einer unter vielen zu sein vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit. Das fette Grasland war durchsetzt mit Gehöften und sogar kleinen Weilern. Man konnte sie aus großer Entfernung sehen: den länglichen Buckel des Hauses und darüber die Rauchfahne, die sich aus dem Schornstein kräuselte. Der Boden enthielt mehr Feuchtigkeit, und die kärgliche Steppenfauna wurde verdrängt von Büschen und Bäumen. Bald wanderte ich an Obsthainen vorbei, an Weiden, auf denen Milchkühe grasten und an Hühnern, die am Wegrand im Staub scharrten. Endlich erreichte ich die Stadt, die sich mit dem See den Namen teilte.
Hinter dem See gab es wieder eine Ebene und dann die Bergausläufer. Hinter diesen begann das Bergreich. Und hinter dem Bergreich war irgendwo Veritas.
Entmutigend, wenn man bedachte, wie lange ich gebraucht hatte, um zu Fuß so weit zu kommen, verglichen mit dem ersten Mal, als ich mit einer Hochzeitskarawane nach Jhaampe gereist war, um Kettricken als Veritas’ Braut heimzuholen. An der Küste war jetzt der Sommer zu Ende, und die ersten Winterstürme tobten. Auch hier würde es nicht mehr lange dauern, bis die kalte Jahreszeit das Binnenland in ihrem Griff erstarren ließ, während im Gebirge auf den höheren Gipfeln wahrscheinlich bereits Schnee fiel. Ich mußte mich darauf einrichten, durch tiefen Winter nach Jhaampe zu wandern; ganz zu schweigen, wie es um die Pässe bestellt war, die ich überqueren mußte, um in den Ländern jenseits des Bergreichs Veritas zu suchen. Ich wußte nicht einmal, ob er noch lebte; er hatte viel Kraft verbraucht, als er mir geholfen hatte, Edel zu entkommen. Doch ich hörte Komm zu mir, komm zu mir im Schlag meines Herzens, und das war der Takt, nach dem ich marschierte. Ich würde Veritas finden oder seine Gebeine, denn sonst konnte ich nicht hoffen, je wieder ganz mir selbst zu gehören.
Die Stadt Blauer See erscheint wegen ihrer flächenmäßigen Ausdehnung größer, als sie ist. Ich sah wenige Gebäude mit mehr als einem Stockwerk; meistens waren es niedrige, langgestreckte Häuser, an die nach Bedarf weitere Flügel angebaut wurden, wenn Söhne oder Töchter heirateten und man Platz für die neue Familie brauchte. Am gegenüberliegenden Ufer gab es Wälder, die Bauholz lieferten;
Weitere Kostenlose Bücher