Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
zu klein für die vier Löffel Suppe, die ich hinuntergebracht hatte. »Tom!« begrüßte sie mich jovial und machte Anstalten, sich neben mir niederzulassen. Mein Banknachbar rückte wortlos ein Stück weiter, seinen Napf zog er scharrend mit. Nach kurzem Zögern nahm ich die Hand vom Messer und legte sie wieder auf die Tischplatte. Merle kommentierte die Geste mit einem kleinen Nicken. Sie trug einen schwarzen Umhang aus guter dicker Wolle mit gelber Stickereibordüre, und während ich auf dem Treck keinen Schmuck an ihr gesehen hatte, glänzten jetzt an ihren Ohren kleine Ringe aus Silber. Ihre selbstzufriedene Miene war für mich ein Grund höchster Beunruhigung. Stumm schaute ich sie an, sie deutete auf meine Schüssel.
»Bitte laß dich von mir nicht stören. Iß weiter. Du siehst aus, als könntest du es brauchen. Knappe Rationen in letzter Zeit?«
»Könnte man sagen.« Als sie nichts weiter äußerte, aß ich die Schüssel leer und wischte sie mit dem letzten Stück Brot sauber. Bis dahin war es Merle gelungen, eine der Schankmägde auf sich aufmerksam zu machen, die uns zwei Humpen Bier brachte. Sie nahm einen großen Schluck, verzog das Gesicht und stellte den Humpen wieder hin. Ich probierte vorsichtiger und fand, es war ebenso gut oder schlecht genießbar wie das Wasser aus dem See, das die einzige Alternative darstellte.
»Nun?« fragte ich schließlich, als sie immer noch schwieg. »Was willst du?«
Sie lächelte und spielte mit dem Krughenkel. »Du weißt, was ich will. Ich will ein Lied, eins, das mich überlebt.« Sie ließ den Blick umherwandern und richtete ihn zu guter Letzt mit belustigter Mißbilligung auf den Mann, der immer noch seine Suppe schlürfte. »Hast du eine Schlafkammer?«
Ich schüttelte den Kopf. »Eine Pritsche auf dem Dachboden. Und mit einem Lied kann ich dir nicht dienen, Merle.«
Sie zuckte leicht die Schultern. »Kommt Zeit, kommt Rat. Erst einmal habe ich etwas für dich, Neuigkeiten, die dich interessieren werden. Und ich habe eine Kammer. In einer Herberge nicht weit von hier. Dort können wir uns unterhalten. Als ich ging, drehte sich gerade ein stattlicher Schweinebraten über dem Feuer. Bis wir kommen, dürfte er gerade richtig sein.«
Jeder meiner Sinne erwachte bei der Erwähnung von Fleisch. Ich glaubte es zu riechen, zu schmecken. »Vielleicht, aber ich kann mir eine solche Mahlzeit nicht leisten«, bekannte ich freimütig.
»Aber ich kann. Hol deine Sachen. Ich bin bereit, auch meine Kammer zu teilen.«
»Und wenn ich ablehne?«
Wieder das angedeutete Schulterzucken. »Es liegt bei dir.« Gelassen erwiderte sie meinen Blick. Ich vermochte nicht zu ergründen, ob das Lächeln in ihrem Mundwinkel eine Drohung barg oder nicht.
Irgendeine Entscheidung mußte ich treffen, wenn ich mich nicht zum Narren machen wollte, also stand ich auf und stieg zum Dachboden hinauf. Als ich mit meinem Bündel wieder herunterkam, wartete Merle am Fuß der Leiter.
»Schöner Umhang«, bemerkte sie trocken. »Habe ich ihn nicht schon einmal irgendwo gesehen?«
»Möglicherweise«, antwortete ich ruhig. »Möchtest du auch das Messer sehen, das dazugehört?«
Merle wehrte breit lächelnd ab, drehte sich um und ging, ohne sich zu vergewissern, ob ich ihr folgte. Ihr Verhalten war eine eigenartige Mischung von Vertrauen und Herausforderung, auf jeden Fall schwer zu ertragen.
Draußen trieb ein scharfer Wind den feuchten Dunst vom See her durch die Gassen; die Feuchtigkeit schlug sich in Tropfen auf meiner Haut und den Kleidern nieder. Prompt begann meine Schulter zu schmerzen. Es brannten keine Fackeln, nur aus den Ritzen der Fensterläden und unter Türen hervor drang etwas Licht auf die Straße. Doch Merle ging zielstrebig voraus, offenbar hatten sich ihre Augen ebenso schnell an die Dunkelheit gewöhnt wie meine.
Sie führte mich vom Kai und den ärmeren Vierteln weg, stadteinwärts, zu den Straßen der Kaufleute und den Wirtshäusern, in denen Gilden und Zünfte verkehrten. In der Nähe lag auch die Herberge, in der König Edel nicht residierte. Sie öffnete eine Tür mit dem Emblem eines Eberkopfs und forderte mich mit einer ausholenden Handbewegung auf, einzutreten. Ich tat es, aber nicht, ohne mich vorher gründlich umgesehen zu haben. Obwohl ich nichts Verdächtiges bemerkte, war mir, als ob ich meinen Kopf in eine Schlinge steckte.
Helligkeit und Wärme strömten mir entgegen. In dieser Gaststube waren die Tische weißgescheuert, die Binsenstreu war so gut wie
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