Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Kinn.
»Fitz?«
»Was ist?«
»Kettricken grollt dir. Rechne morgen nicht mit ihrer Güte und Geduld. Aber denke daran, sie ist nicht nur unsere Königin. Sie ist eine Frau, die ein Kind verloren hat und seit einem Jahr um ihren Gemahl bangt. Eine Frau, die aus dem Land, das sie an seiner Seite als Königin regieren sollte, vertrieben wurde und erleben mußte, daß das Ungemach ihr bis in die Heimat gefolgt ist. Ihr Vater ist begreiflicherweise erzürnt. Er richtet den Blick eines Feldherrn auf die Sechs Provinzen und Edel, und er hat nichts im Sinn mit der Suche nach dem Bruder seines Feindes, selbst wenn er glauben würde, daß dieser noch lebt. Kettricken ist allein, einsamer, als du oder ich es uns vorstellen können. Ich bitte dich um Verständnis für die Frau. Und um Respekt vor der Königin.« Er schwieg einen Augenblick. »Du wirst morgen beides brauchen. Ich werde dir bei deinem Gespräch mit ihr nicht helfen können.«
Er redete noch weiter, doch ich hörte nicht mehr zu. Der Schlaf überwältigte mich.
Seit langem hatten mich keine Gabenträume mehr heimgesucht. Ich weiß nicht, ob wegen meiner Schwäche oder weil die dauernde Abschirmung gegen Edels Kordiale auch die Gabe selbst aus meinem Bewußtsein fernhielt. Wie dem auch sei, in dieser Nacht endete meine Schonfrist. Der Traum bemächtigte sich meiner mit solcher Gewalt, als hätte eine große Hand in mich hineingegriffen und mein Ich aus mir herausgerissen, um es an einen anderen Ort zu versetzen.
Dieser andere Ort war eine Stadt, in dem Sinne, daß Menschen dort in großer Zahl zusammenlebten. Sie wirkten jedoch fremdartig, wie aus einer anderen Welt, und auch Bauwerke wie dort hatte ich noch nie gesehen. Sie schienen bis in den Himmel zu ragen, absonderliche Strukturen, als wäre der Stein der Mauern in eine Form gegossen worden. Filigrane Brücken überspannten die Zwischenräume, und Gärten ergossen sich in Kaskaden die Gebäudeflanken hinunter und klommen wieder hinauf. Fontänen spielten, andere Brunnen bildeten stille Teiche. Überall waren farbenfroh gekleidete Menschen unterwegs, zahlreich wie Ameisen.
Doch kein Geräusch. Totenstille. Ich ahnte die Scharen der Menschen, die glitzernden Springbrunnen, den Duft der sich öffnenden Blüten. Alles vorhanden, doch wenn ich den Blick darauf richtete, war es verschwunden. Der Verstand erblickte die verschnörkelte Grazie der Brücke, aber das Auge sah nur Trümmer, Schutt und Rost. Bemalte Mauern waren vom Wind bis auf die vermörtelten Ziegel abgeschliffen worden. Eine Wendung des Kopfes verwandelte ein prachtvolles Wasserspiel zu staubigem Unkraut in einem von Rissen durchzogenen Becken. Die geschäftige Menge auf dem Marktplatz sprach nur mit der Stimme des ungebärdigen Windes, der lange Sandfahnen heranwehte. Ich irrte durch dieses Phantom einer Stadt, selbst körperlos und suchend, ohne einen Fingerzeig, weshalb ich dort war oder welche Macht mich anzog. Es war weder hell noch dunkel, weder Sommer noch Winter. Ich befand mich in einem Reich außerhalb der Zeit und rätselte, ob dies die absolute Hölle aus der Philosophie des Narren war oder die ultimative Freiheit.
Endlich entdeckte ich auf einer der breiten Promenaden weit vor mir eine kleine Gestalt. Einen Mann. Er stemmte sich mit gesenktem Kopf gegen den Wind und hielt den Saum des Umhangs schützend vor Mund und Nase. Anders als die übrigen wesenlosen Gestalten suchte er sich einen Weg zwischen den Trümmern hindurch und machte einen Bogen um die Stellen, wo durch ein Aufbegehren in der Tiefe der Erde die gepflasterte Straße geborsten oder zu Kratern eingesunken war. Ich wußte sofort, daß es Veritas war. Die Regung von Leben in meiner Brust sagte es mir, und ich begriff nun auch, was mich hierhergezogen hatte, war die winzige Perle von Veritas’ Gabe, die sich noch immer in meinem Bewußtsein verbarg. Ein Gefühl sagte mir, daß er in größter Gefahr schwebte, doch ich entdeckte nichts, wovon eine Bedrohung hätte ausgehen können. Ich sah ihn durch die Schemen von Gebäuden, die gewesen waren, umwogt von den Geistern der Marktbesucher. Mit schwerem Schritt ging er die Straße entlang, allein und unberührt von der unwirklichen Szene und doch darin befangen, und Gefahr ragte über ihm auf wie der Schatten eines Riesen.
Ich versuchte, ihn einzuholen, und war in einem Lidschlag an seiner Seite. »Endlich«, begrüßte er mich, »endlich hast du mich gefunden, Fitz. Willkommen.« Er verhielt nicht den Schritt und wandte
Weitere Kostenlose Bücher