Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
empfand die Alte Macht in mir als toten Stein. Zufall, oder bestand da ein Zusammenhang, den ich nur nicht zu erkennen vermochte?
Meine Gefährten hatten sich mittlerweile im ganzen Wald verstreut, eilten von einer Skulptur zur anderen und unterrichteten sich gegenseitig durch begeisterte Zurufe von immer neuen Entdeckungen, unter wucherndem Efeu versteckt oder begraben unter welkem Laub. Langsam ging ich ihnen hinterher. Dies mußte der Bestimmungsort sein, der auf der Karte eingezeichnet war – jedenfalls wenn der alte Kartograph maßstabsgetreu gearbeitet hatte. Aber wozu das alles? Welche Bedeutung hatten diese Steinbildnisse? Die Bedeutung der Stadt war offensichtlich. Sie konnte die einstige Heimat der Uralten gewesen sein. Aber dies hier?
Ich eilte hinter Kettricken her und fand sie bei einem geflügelten Stier. Er schlief, die Läufe untergeschlagen, die massigen Schultern ein Berg, den schweren Kopf auf die Knie gebettet. Er war in jeder Hinsicht das genaue Abbild eines Bullen, von den weitgeschwungenen Hörnern bis zur Spitze der Schwanzquaste. Die gespaltenen Hufe waren im Waldboden begraben, doch ich bezweifelte nicht, daß sie vorhanden waren. Kettricken hatte die Arme ausgebreitet, um die Spannweite des Gehörns zu messen. Wie alle anderen besaß auch der Stier Flügel, zusammengefaltet auf dem breiten schwarzen Rücken.
»Kann ich einen Blick auf die Karte werfen?« fragte ich, und Kettricken schrak auf.
»Ich habe bereits nachgesehen«, antwortete sie, »und ich bin sicher, dies ist der eingezeichnete Ort. Wir sind an den Ruinen von zwei steinernen Brücken vorbeigekommen, die auf der Karte vermerkt sind. Und die Zeichen auf dem Pfeiler, den der Narr entdeckt hat, stimmen mit denen überein, die du in der Stadt für diesen Punkt eingetragen hast. Ich denke, wir stehen am Ufer eines ausgetrockneten Sees. Zumindest lese ich die Karte so.«
»Das Ufer eines Sees.« Ich nickte vor mich hin, während ich mir ins Gedächtnis rief, was ich auf Veritas’ Karte gesehen hatte. »Möglich. Wahrscheinlich ist er verlandet und zu einem Sumpf geworden. Aber – was haben all diese Statuen zu bedeuten?«
Kettricken wies mit einer unbestimmten Armbewegung auf den Wald. »Ein Garten oder Park vielleicht?«
Ich schaute mich um und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht wie irgendein Garten, den ich je gesehen habe. Die Skulpturen sind ganz willkürlich verteilt. Sollte ein Garten nicht Geschlossenheit und ein Thema besitzen? Wenigstens hat Philia das immer gesagt. Hier sehe ich nur Kunstwerke ohne eine Spur von Pfaden oder Beeten oder... Kettricken? Schlafen sie alle? Diese Kreaturen meine ich.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube schon. Und alle haben Flügel.«
»Vielleicht ist es ein Friedhof. Vielleicht befinden sich Grüfte unter diesen Steinbildern. Es könnte sein, daß es sich um eine Art von Wappentieren handelt, die die Grabstätten verschiedener Familien bezeichnen.«
Nachdenklich ließ Kettricken den Blick in die Runde schweifen. »Mag sein, daß du recht hast. Doch weshalb einen Friedhof auf einer Karte einzeichnen?«
»Und weshalb einen Garten oder Park?«
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, unsere Umgebung zu erforschen. Wir fanden noch zahlreiche weitere Tiere aus Stein, unterschiedlichster Art und verschieden gestaltet, doch alle waren geflügelt und schliefen. Und sie schliefen seit sehr, sehr langer Zeit. Bei näherem Hinsehen wurde mir klar, daß man nicht etwa die Statuen zwischen den Bäumen angeordnet hatte. Die Skulpturen waren zuerst dagewesen, die Bäume um sie herum gewachsen. Einige waren fast verschwunden unter kriechendem Moos und moderndem Laub. Von einem ragte nur noch die riesige, mit Zahndolchen gespickte Schnauze aus einem morastigen Stück Boden. Die entblößten Fänge glänzten silbern, und die Spitzen waren scharf.
»Ich habe nicht einen einzigen gefunden, der auch nur im geringsten beschädigt war. Alle sind so makellos erhalten wie an dem Tag, als der Bildhauer letzte Hand an sie legte. Mir ist auch rätselhaft, wie der Stein bemalt wurde. Es scheint weder Farbe noch Lack zu sein; außerdem zeigt sie keine Spuren von Verwitterung.«
Als wir am Abend um unser Lagerfeuer saßen, breitete ich meine Gedanken vor den anderen aus. Ich bemühte mich, Kettrickens Kamm durch mein nasses Haar zu ziehen. Am späten Nachmittag hatte ich mich von den anderen entfernt, um mich gründlich zu waschen – zum ersten Mal, seit wir von Jhaampe aufgebrochen waren.
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