Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
bis zu einem raubvogelähnlichen Schnabel. Aus der Stirn der Kreatur sproß ein schimmerndes Horn mit einer nadelfeinen Spitze. Die vier unter den Leib gefalteten Gliedmaßen erinnerten mehr an eine Hinde denn an einen Lindwurm. Diese zwei so unterschiedlichen Geschöpfe beide als Drachen zu bezeichnen erschien mir wie Widerspruch, aber ich wußte keinen besseren Namen für solche Fabelwesen.
Kettricken sagte plötzlich: »Ich glaube nicht, daß sie lebende Wesen sind. Ich glaube, es sind lebensechte Steinbildnisse.«
Die Alte Macht vermittelte mir einen anderen Eindruck. »Sie sind lebendig«, warnte ich mit gedämpfter Stimme. Ich wollte zu einem hinspüren, aber Nachtauge war einer Panik nahe, und so zog ich meinen Gedankenfühler wieder zurück. »Sie schlafen sehr tief, als lägen sie noch im Winterschlaf, doch ich weiß, daß sie lebendig sind.«
Krähe hatte indessen beschlossen, sich selbst zu überzeugen. Ich sah, wie Kettrickens Augen sich weiteten, und schaute zu dem Drachen hin, voller Angst, er könnte erwachen. Doch nichts geschah, als Krähe ihre altersfleckige Hand auf die Stirn der Kreatur legte. Einen Augenblick warteten wir alle mit angehaltenem Atem, aber dann lächelte sie und strich mit den Fingerspitzen an dem gedrehten Horn hinauf. »So wunderschön«, sagte sie versonnen. »So vollkommen modelliert.«
Sie winkte uns. »Seht ihr die Ranken, die an der Schwanzspitze hinaufgewachsen sind? Und wie das Laub von Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, sich um den Körper häuft? Doch jede einzelne Schuppe glänzt noch wie neu, als hätte die Zeit diesem Bildnis nichts anzuhaben vermocht!«
Entzückt und begeistert eilten Merle und Kettricken zu ihr hin, und bald knieten alle drei bei der Skulptur und machten sich gegenseitig auf immer neue Einzelheiten aufmerksam: Die feinziselierten Schuppen der Flügel, die anmutigen Windungen des Schweifs und hundert andere Wunder. Doch während sie wie Kinder mit einem neuen Spielzeug von dem steinernen Bildnis Besitz ergriffen, hielten der Wolf und ich uns abseits. Nachtauge standen die Nacken- und Rückenhaare zu Berge. Er stieß ein hohes Quiemen aus, das sich fast anhörte wie ein Pfeifen. Mir fiel auf, daß auch der Narr sich nicht zu den anderen gesellt hatte. Er bestaunte das Wunder von ferne, wie vielleicht ein Geizkragen einen Goldhaufen, der größer ist, als er sich je erträumt hatte. Seine Augen waren weit geöffnet und dunkel, und sogar seine blassen Wangen hatten sich rosig gefärbt.
»Fitz, das ist wunderbar! Nur kalter Stein, aber so kunstvoll bearbeitet, daß er aussieht wie lebendig. Und sieh! Da ist noch einer, mit einem Hirschgeweih und dem Gesicht eines Menschen!« Kettricken streckte die Hand aus, und ich entdeckte eine weitere auf dem Waldboden liegend ausgestreckte Skulptur. Alle stürzten darauf zu und ergingen sich erneut in Ausrufen der Bewunderung über die Schönheit und Akkuratesse.
Ich setzte mich zögernd in Bewegung. Der Wolf drückte sich an meine Beine. Bei dem gehörnten Drachen angelangt, sah ich mit eigenen Augen das Spinngewebe in der Höhlung eines Hufs. Keine Atemzüge hoben die Brust des Wesens, der Leib verströmte keine Wärme. Schließlich überwand ich mich und legte eine Hand auf den kalten behauenen Stein. »Es ist eine Statue«, sagte ich laut, um mich glauben zu machen, was die Alte Macht leugnete. Ich schaute mich um, vorbei an dem Hirschmenschen, neben dem Merle noch bewundernd kniete, dorthin, wo Krähe und Kettricken bei einer vierten Skulptur standen. Diese gemahnte an einen auf der Seite liegenden Eber. Die Hauer, die aus seiner Schnauze ragten, waren so lang, wie ich groß war. In jeder Hinsicht ähnelte er dem Wildschwein, das Nachtauge gerissen hatte, bis auf die ungeheure Größe und die an den Leib gefalteten Schwingen.
»Ich kann wenigstens ein Dutzend von diesen Figuren sehen«, verkündete der Narr. »Und hinter den Bäumen, da habe ich noch so einen schwarzen Pfeiler gefunden.« Er legte eine neugierige Hand auf die steinerne Drachenhaut und zuckte, als er die Kälte spürte.
»Ich kann nicht glauben, daß sie aus Stein sind«, sagte ich zu ihm.
»Auch ich habe noch nie derart lebensechte Skulpturen gesehen.« Er nickte zustimmend.
Ich versuchte nicht, ihm zu erklären, daß er mich falsch verstanden hatte. Mich beschäftigte eine andere Frage. In diesem toten Stein spürte ich Leben. Die Entfremdeten hingegen, deren Körper unzweifelhaft von einem primitiven Leben beherrscht wurden,
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