Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
ich durchs Lager ging, trat Kettricken aus dem Zelt. Sie trug dieselben abgewetzten Kleider wie am Tag zuvor. Wie stets war ihr Haar im Nacken zu einem kurzen Zopf geflochten, und die Falten auf ihrer Stirn und um die Mundwinkel waren nicht verschwunden. Doch auf ihrem Gesicht lag ein warmer, leuchtender Perlenglanz. Neue Zuversicht strömte von ihr aus. Sie atmete tief die frische Morgenluft ein und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
Ich eilte an ihr vorbei.
Das Wasser im Bach war eiskalt, die Ufer mit Zinnkraut bewachsen. Ich riß ganze Hände voll davon aus, um mich abzuschrubben. Meine nassen Kleider waren auf den Büschen am anderen Ufer ausgebreitet. Der warme Tag versprach sie schnell zu trocknen. Nachtauge saß am Ufer und beobachtete mein Treiben mit einer Falte zwischen den Augen.
Ich verstehe das nicht. Du riechst gar nicht schlecht.
Nachtauge, geh jagen. Bitte.
Du möchtest allein sein ?
So allein wie es neuerdings noch möglich ist.
Er stand auf und reckte sich mit einer tiefen Verbeugung in meine Richtung. Eines Tages werden wir allein sein, du und ich. Wir werden jagen und fressen und schlafen, und du wirst heilen.
Mögen wir beide das erleben, sagte ich aus vollem Herzen.
Der Wolf verschwand zwischen den Bäumen. Ich versuchte, die Fingerabdrücke des Narren an meinem Handgelenk abzuscheuern. Sie gingen nicht ab; dafür lernte ich eine Menge über den Lebenszyklus von Ackerschachtelhalm. Ich gab es auf. Auch wenn ich mir die Haut vom Leibe zog, würde ich mich noch immer nicht frei fühlen von dem, was geschehen war. Ich watete aus dem Bach und strich mir dabei das Wasser von der Haut. Meine Kleider waren trocken genug, um wieder hineinschlüpfen zu können. Ich setzte mich ans Ufer, um meine Stiefel anzuziehen. Fast wären meine unbeaufsichtigten Gedanken zu Molly und Burrich gewandert, doch ich rief sie schnell zur Ordnung und überlegte statt dessen, wie bald Edels Soldaten hier eintreffen konnten und ob Veritas seinen Drachen bis dahin vollendet haben würde. Vielleicht war er bereits vollendet. Ein Ereignis, das man nicht versäumen sollte.
Mein Wunsch, allein zu sein, war stärker.
Ich legte mich ins Gras und schaute in den blauen Himmel. Ich bemühte mich, etwas zu empfinden. Furcht, Aufregung, Zorn. Haß, Liebe. Doch ich fühlte mich nur verwirrt und ausgebrannt. Erschöpft an Geist und Körper. Von der Helligkeit geblendet, schloß ich die Augen.
Die Harfentöne begleiteten das Murmeln und Rauschen des Wassers, verschmolzen damit, lösten sich übermütig und kehrten wieder zurück. Ich hob die Lider und schaute blinzelnd zu Merle hin. Sie saß neben mir am Bachufer und spielte. Ihr Haar war offen und fiel in Wellen trocknend auf ihren Rücken. Sie hatte einen Grashalm im Mund, und ihre nackten Füße schmiegten sich in das weiche Gras. Sie erwiderte meinen Blick, doch ohne etwas zu sagen. Ich schaute auf ihre Hände, während sie spielte, die linke mußte sich flinker bewegen, um die Steifheit der letzten zwei Finger auszugleichen. Mir war, als hätte ich deswegen ein bestimmtes Gefühl haben müssen, aber ich wußte nicht welches.
»Wozu sind Gefühle eigentlich gut?« Kaum war mir die Frage in den Sinn gekommen, hatte ich sie auch schon ausgesprochen.
Ihre Finger stockten auf den Saiten. Sie zog die Stirn in Falten. »Ich glaube nicht, daß es darauf eine vernünftige Antwort gibt.«
»In letzter Zeit habe ich kein großes Glück mit Antworten auf irgend etwas. Warum bist du nicht im Kessel und schaust zu, wie sie den Drachen vollenden? Das ist doch wohl der Stoff für ein preiswürdiges Lied.«
»Weil ich hier bei dir bin«, antwortete sie schlicht. Dann trat ein Grinsen auf ihr Gesicht. »Und weil alle anderen beschäftigt sind. Krähe schläft. Kettricken und Veritas... Sie war damit beschäftigt, sein Haar zu kämmen, als ich wegging. Ich habe König Veritas nie zuvor lächeln sehen. Wenn er es tut, hat er um die Augen herum große Ähnlichkeit mit dir. Wie auch immer, man wird mich kaum vermissen.«
»Und der Narr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist mit Hammer und Meißel an der Drachenreiterin zugange. Ich weiß, er sollte es nicht tun, aber ich denke, er kann nicht anders. Und ich wüßte nicht, wie ich ihn daran hindern sollte.«
»Ich glaube nicht, daß er ihr helfen kann. Aber bestimmt hast du recht, er muß es einfach versuchen. Trotz seiner spitzen Zunge hat er ein weiches Herz.«
»Das weiß ich; auch wenn ich eine Weile gebraucht habe, um es zu merken.
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