Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
verlassen. Erst vor zwei Tagen, aber mir schien es viel länger her zu sein. Wie maß er wohl die Zeit unserer Trennung? Keinesfalls nach Tagen und Nächten. Er war fortgegangen, um etwas herauszufinden, und sobald er es herausgefunden hatte, war seine Zeit der Abwesenheit von mir vorüber, und er würde zurückkommen. Doch was genau wollte er eigentlich herausfinden? Wie es war, ein Wolf unter Wölfen zu sein, Teil eines Rudels? Wenn sie ihn bei sich aufnahmen, was dann? Würde er mit ihnen laufen, einen Tag, eine Woche, eine Jahreszeit? Wie lange würde es dauern, bis ich aus seinem Bewußtsein in eins seiner endlosen Gestern hinabgesunken war?
Weshalb sollte er zu mir zurückkehren wollen, wenn dieses Rudel bereit war, ihn aufzunehmen?
Erst nach einer geraumen Weile brachte ich es fertig, mir die Wahrheit einzugestehen, daß ich mich nämlich ebenso gekränkt und verletzt fühlte, als hätte unter Menschen ein alter Freund mich stehenlassen, um sich einem anderen Kreis zuzuwenden. Mir war danach, den Kopf in den Nacken zu legen und zu heulen, Nachtauge meine Einsamkeit spüren zu lassen, doch ich beherrschte mich. Er war kein Hund, den man bei Fuß kommandierte. Er war ein Freund, und wir hatten eine Zeitlang denselben Weg gehabt. Welches Recht hatte ich, von ihm zu verlangen, daß er auf eine Gefährtin verzichtete, auf ein eigenes Leben unter seinesgleichen, nur um mir Gesellschaft zu leisten? Gar kein Recht, nicht das geringste.
Gegen Mittag stieß ich auf einen Pfad, der am Ufer entlangführte. Bis zum frühen Abend war ich an etlichen kleinen Gehöften vorbeigekommen, an Feldern, auf denen hauptsächlich Melonen und Getreide angebaut wurden.
Ein Netz von Gräben leitete Wasser vom Fluß zu den Äckern. Wahrscheinlich wegen der Hochwassergefahr standen die Behausungen aus Erdsoden in einiger Entfernung vom Flußufer. Ich war von Hunden angebellt worden und von fetten weißen Gänsen ungnädig angerätscht; doch Menschen hatte ich nur von ferne gesehen, zu weit weg, um ihnen einen Gruß zuzurufen. Der Pfad hatte sich zu einem Karrenweg mit tief eingefahrenen Geleisen verbreitert.
Von einem wolkenlosen Himmel brannte mir die Sonne auf Kopf und Rücken. Hoch über mir hörte ich den schrillen Ruf eines Falken. Ich schaute zu ihm auf, wie er sich mit ausgebreiteten Schwingen von den Winden tragen ließ. Er schrie erneut, legte die Flügel an und stieß auf mich herab. Wahrscheinlich hatte er auf einem Feld in der Nähe einen kleinen Nager erspäht. Ich beobachtete seinen Sturzflug, und erst im letzten Augenblick wurde mir klar, daß er es wahrhaftig auf mich abgesehen hatte. Erschrocken warf ich den Arm hoch, um mich zu schützen, und spürte den scharfen Luftzug seiner rudernden Schwingen, als er zur Landung ansetzte. Seine Krallen bohrten sich schmerzhaft in mein Fleisch.
Mein erster Gedanke war: Ein verwilderter Beizvogel, der mich erblickt und aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, wieder die Gesellschaft des Menschen zu suchen. Bei dem Stück Leder an seinem Bein konnte es sich um die Überreste seiner Langfessel handeln. Er saß blinzelnd auf meinem Arm, ein prachtvolles Tier in jeder Hinsicht. Ich hielt ihn ein Stück von mir ab, um ihn besser betrachten zu können. Mit dem Leder war ein Pergamentröllchen an seinem Bein befestigt. »Darf ich mir das ansehen?« fragte ich. Beim Klang meiner Stimme wandte er den Kopf, und ein glänzendes Auge starrte mich an. Es war Terzel.
Altes Blut.
Mehr konnte ich aus seinen Gedanken nicht entnehmen, aber es genügte.
In Bocksburg hatte ich keine gute Hand für Falken gehabt. Burrich hatte mir schließlich befohlen, ihnen nicht zu nahe zu kommen, weil meine Gegenwart sie aufregte. Deshalb spürte ich jetzt mit großer Behutsamkeit nach seinem flammenhellen Bewußtsein. Er schien keine Gereiztheit oder Unruhe zu empfinden, und es gelang mir, ihm die kleine Pergamentrolle abzunehmen. Terzel trat auf meinem Arm hin und her und fügte mir mit seinen Krallen neue Wunden zu. Dann, ohne Vorwarnung, breitete er die Schwingen aus und warf sich in die Luft. Mit kraftvollen Flügelschlägen schraubte er sich in die Höhe, stieß noch einmal seinen hohen, klagenden Schrei aus und verlor sich im Blau des Himmels. Ich blieb mit einem zerschundenen Arm zurück und verwirrt von dem dramatischen Auftauchen und Verschwinden dieses Jägers der Lüfte. Ich betrachtete die blutenden Löchlein in meiner Haut, dann veranlaßte mich die Neugier, den kleinen Zettel umzudrehen. Tauben
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