Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
Schal, den Norîgon bis unter die Augen hochgezogen hatte, haftete eine Reifschicht, der Atem gefror beim Ausatmen sofort. Sie sahen alle aus wie mit Puder bestäubt und kleinen Kristallen überzogen.
Ich werde versuchen, die Schwangeren zu erlegen. Die Knochen der Ungeborenen ergeben ein außergewöhnliches Kunstwerk. Er saß neben Modôia an dritter Stelle ihres kleinen Zuges und aß etwas vom unberührten Schnee. Der einzige Vorteil ist, dass man kein Wasser zu tragen braucht.
»Glaubst du, dass es ein Unglück war?«, fragte Kâitolon unvermittelt neben ihm.
Er wusste sofort, was sein Freund meinte. »Ich traue den Elben zu, dass sie die Falle für uns legten«, gab er zurück und lutschte das Eis. »Der Unterstand sah sicher aus, und genau darauf fielen wir herein.« Norîgon sah über die Gipfel und musste die Augen zusammenkneifen. »Wir rächen Teîsolor.«
»Die Elben konnten aber nicht wissen, dass wir ihnen folgen«, hielt Kâitolon dagegen.
Norîgon kannte den braunhaarigen Alb lange. Sie hatten gemeinsame Schlachten gegen aufständische Óarcos geschlagen und Barbarenheeren gegenübergestanden. Jeder von ihnen hatte mehr als tausend Feinde erschlagen und dreißig Teile der Unendlichkeit gesehen. Daher vertrauten sie einander blind ihr Leben an und konnten den anderen genau einschätzen. »Weshalb fragst du mich dann, ob es ein Unglück war?« Er folgte dem Blick aus den schwarzen Augen des erfahrenen Kampfgefährten hinüber zum Hirtenjungen. » Er ?«
Kâitolon nahm sich ebenfalls Schnee, presste ihn zu einer kleinen Kugel und steckte sie in den Mund. »Mir fiel es erst nachträglich auf: Er verschob die Feuerstelle der Elben näher an die Felswand.«
»Also wusste er, dass die Wand nachgab, sobald man sie erwärmt«, folgerte Norîgon. »Eine Eisschicht womöglich, die sich auflöste?«
Kâitolon aß erneut vom Weiß, um den Durst zu löschen. »Daraus ergab sich für mich die Frage, was er davon hat, wenn wir sterben. Er würde damit seine Sippe verlieren. Ohne uns gelangt er niemals an den Nachtmahren vorbei, und bis er nach Güldenwand gelangt ist, um sich Beistand zu suchen, vergehen zu viele Momente.«
»In Güldenwand wird ihm niemand helfen. Dank der Aklán«, erinnerte ihn Norîgon. Firûsha hatte vor ihrer Abreise dafür gesorgt, dass dort ein Bürgermeister herrschte, der es niemals wagen würde, gegen die Albae zu handeln.
Kâitolon sah ihn an. »Was schließt du daraus?«
Norîgon lachte böse. »Dass er sich für so mutig und gewitzt hält, gegen alle Hindernisse zu bestehen und seine Sippe zu retten.« Auf den Zügen seines Gegenübers vermisste er Zustimmung. »So lass mich wissen, was du denkst.«
»Die Lösung ist einfacher: Der kleine Barbar« – Kâitolon nickte wieder zu dem Jungen – »hasst seine Sippe.«
Norîgon blinzelte. Er hatte in den vergangenen Feldzügen gelernt, dass die feigsten Barbaren dazu neigten, seltsame Unterfangen anzugehen und die größten Strapazen auf sich zu nehmen, wenn es um eigenes Fleisch und Blut ging. Das Verhalten des Hirten hätte ich dazugezählt. »Er will sie tot sehen, denkst du?«
Kâitolon wiegte den Kopf hin und her. »Sie ist ihm gleichgültig.« Er dachte nach und ließ ihren Gefangenen nicht aus den Augen, wie er neben Modôia kauerte, die Beine angezogen und den Kopf als Schutz vor dem Wind zwischen die Knie gelegt. »Erinnerst du dich, wie er den Barbaren nannte, an dessen Stelle er mit uns ging?«
»Vater.«
»Nein. Er nannte ihn Oheim . Ich kenne ihre Sprache zwar, aber dieses Wort begegnete mir zum ersten Mal. Ich dachte mir nichts dabei und hielt es für einen Kosenamen.« Kâitolon sah wieder zu Norîgon. »Wenn es nun nicht sein Vater war? Was ist ein Oheim? Welche Geschichte steckt dahinter?«
»Ich verstehe. Fragen wir ihn.« Er formte einen Ball und warf ihn nach dem Jungen, der beim Aufprall erschrocken zusammenzuckte und sich verwundert umsah. »Komm her!«, befahl Norîgon.
»Was wollt ihr von ihm?«, schritt Modôia ein. »Er soll hier vorne bei mir und Artâgon bleiben.«
»Ich habe etwas vom Gehöft mitgenommen, dessen Sinn sich mir nicht erschließt«, antwortete Kâitolon mit lauter Stimme, weil der Wind in den Helmen surrte. »Ich dachte, es sei Trockenfleisch. Aber bevor ich mich vergifte, wird er es mir erklären können.«
Modôia nickte. »Gebt acht, dass er nicht hinabfällt.« Sie wandte sich nach vorne, wo Artâgon sie zu sich winkte.
Der Barbar kroch zu ihnen und deutete eine Verbeugung
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