Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
erwartungsvoll auf die Sänfte, als wüssten sie, was als Nächstes geschah. Sie atmeten lediglich; die austretende Luft aus Nasen und offenstehenden Mündern wurde durch die Kälte sichtbar und mischte sich mit dem Dampf, den sie durch die Wärme ihrer Körper absonderten.
Haïmoná konnte nicht verhindern, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief. Wenn sie sich alle auf einen Schlag auf mich werfen, werde ich ihnen nicht entkommen. Es sei denn, ich nutze ihre Köpfe und Schultern als Trittsteine. Behutsam nahm sie die Füße aus den Steigbügeln.
Ganz langsam wurde der vordere Fensterladen aufgeschoben.
Dahinter schimmerte das Licht einer Lampe, die mit Ketten befestigt von der Sänftendecke baumelte. Die Albin sah eine Gestalt, die sich nach vorne beugte und in der Öffnung deutlich sichtbar wurde.
Es war eine Barbarin, die ihren Kopf geschoren und mit weißen Tätowierungen versehen hatte. Die Runen glichen denen auf der Sänfte, unterschieden sich geringfügig durch den Schwung und die Feinheiten. Auf der Nasenwurzel prangte ein schwarzes Oval, das den aufgeklebten Diamantsplitter betonte. Ihre fließenden Gewänder waren in Weiß und Dunkelgrün gehalten, Ketten aus Silber und mit Edelsteinen besetzt baumelten um Hals und Handgelenke.
»Du bist eine Albin«, sagte die Unbekannte in der Allgemeinsprache von Ishím Voróo und richtete den stechenden Blick ihrer hellgelben Augen auf sie.
»Das ist richtig.« Haïmoná erwiderte die Musterung.
»Aber du bist nicht die Schuldige.«
»Die Schuldige?«
»Ich bin Fa’losôi, Tochter von Sh’taro Nhatai aus der Nhatai-Familie, und suche einen anmaßenden Vertreter deines Volkes«, sprach sie zornig. »Er kam zu uns, tötete meinen Großvetter und schnitt ihm den Kopf ab. Nun folge ich ihm, um ihn zu bestrafen.«
Aber natürlich! Haïmoná überblickte die Zahl der Gefolgsleute und konnte sich endlich einen Reim auf das Verhalten der zahllosen Bestien machen. Sie ist eine Botoikerin. Wie genau das magisch begabte Volk seine Kräfte einsetzte, entzog sich ihrer Kenntnis, aber es schien darauf hinauszulaufen, dass sie anderen Wesen ihren Willen aufzuzwingen vermochte. Waren wir nicht immun?
Haïmoná hatte sich nie für die Bewohner von Ishím Voróo interessiert, und ihre Einsätze führten sie bislang gegen andere Völker. »Dann folge ihm weiter«, schlug sie vor.
»Was treibt dich alleine an diesen Ort?« Fa’losôi umfasste mit der Linken ihre Kette. »Bist du eine Späherin?«
»Nein«, erwiderte Haïmoná wahrheitsgemäß. »Ich suche eine Freundin. Sie kehrte von ihrem Einsatz nicht zurück.«
»Dann sind wir beide Suchende, wenn auch aus anderen Gründen.« Die Botoikerin schwieg eine Weile, ohne den Blick abzuwenden. »Weißt du , wer meinen Vetter ermordete?«
Haïmoná schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts bekannt von einer neuen Strafaktion gegen euch. Es ist lange her, dass die Unauslöschlichen euch in eure Schranken verwiesen. Seither blieben wir beide friedlich.« Wie komme ich aus dieser Schlucht? Sie war sich sicher, dass Fa’losôi sie nicht am Leben lassen wollte. Der stechende, mordlüsterne Blick verriet ihre Absichten allzu deutlich.
»Eben! Wir unternahmen nichts, und das schwöre ich beim enthaupteten Leichnam meines Vetters. Nichts rechtfertigte den Mord an ihm.« Die Glatzköpfige spielte mit den schwarzen Edelsteinen. »Ich habe den Rat der mächtigsten Familien einberufen, um darüber entscheiden zu lassen, wie unsere Antwort darauf lauten wird.«
»Und bis diese Entscheidung fällt, nahmst du dir die Heerscharen deines Vetters und folgst den Spuren des Attentäters, nehme ich an«, fügte Haïmoná hinzu. In ihrem Kopf hatte sich bereits ein Plan entwickelt: In die Sänfte hechten, die Botoikerin töten und von Bestie zu Bestie springen wie von einem Trittstein zum anderen. Das bedeutete das Ende des Nachtmahrs, aber anders ging es nicht.
»So ist es. Ich weiß einzig, dass es ein blonder Alb war. Zwar sah ich ihn, doch ich vermochte nicht mehr einzugreifen.«
Haïmoná schmunzelte böse. »Es wäre dir nicht gelungen. Wir sind zu rasch, um uns aufhalten zu lassen.«
»Ich hätte mich ihm in den Weg gestellt, und die wenigen Lidschläge mehr, die er brauchte, um mich zu töten, hätten meinem Großvetter ausgereicht, um seine Horden zu rufen.« Fa’losôi ließ die Steine los und legte beide Hände in den Schoß, der grüne Stoff um ihre Arme raschelte leise. »Du hast mir deinen Namen noch nicht
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