Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
hier nicht herumtrieben, machte Haïmoná ebenso stutzig wie nachdenklich.
Die Macht des Dämons? Treibt er sich in der Nähe herum? Behutsam schlich sie durch den Spalt in die Höhle, zog ihren Schal zum Schutz gegen den Rauch und den Gestank vor das Antlitz. Inzwischen ärgerte sie sich, den Brief weggeworfen zu haben, denn sie konnte sich nicht erinnern, ob er Hinweise auf den Ort beinhaltet hatte, an dem sich der Tunnel befand, durch den die Goldstählernen vor dem übermächtigen Dämon geflohen waren.
Es war still in der Höhle. Kein Rascheln, kein Knacken oder Scharren. Die Endlichkeit hatte den Ort heimgesucht, mit ganzer Macht und tödlicher Wucht.
Lautlos schlich Haïmoná vorwärts, kletterte aufmerksam über die Ruinen.
Wage ich es, nach Caiphôra zu rufen? Sie hielt das Schwert schlagbereit, falls es doch Kreaturen in der Höhle gab, die sich durch Stahl töten ließen.
Was sie gegen den Dämon unternehmen konnte, wusste sie nicht.
Haïmoná erreichte die Mitte der Stätte, an der sich die Festung der Kwaitoo erhoben hatte. Sie sah zerfetzte und aufgeplatzte Körper, die von den Zaubern des Dämons unmittelbar getroffen worden sein mussten. Das schwarz schwärende Fleisch stank grauenhaft, und zu allem Überfluss gab es nicht einen Knochen oder ein Körperteil, das sich zur Schaffung von Kunst eignete.
Das Trümmermeer, das sie stellenweise um das Vierfache überragte, gab Haïmoná wenig Zuversicht, ihre vermisste Gefährtin zu finden. Wenigstens fand sie ein Bündel Speere, die von einer Ntîstai stammten, und lud sie auf den Rücken; einen davon tauschte sie in ihrer Hand gegen das Schwert aus.
Haïmoná erklomm die höchste Stelle und hielt Ausschau, ohne sich vollständig aufzurichten. Von hier oben wirkte es, als stünde sie über einem erstarrten Meer aus Stein, in dem jedes Leben von den Felswogen erschlagen und erdrückt worden war.
Der erschütternde Anblick entfachte die größtmögliche Sorgen in ihrem Herzen.
Sie konnte es nicht länger unterdrücken. »Caiphôra!«, schrie Haïmoná immer wieder und drehte sich dabei im Kreis. Ihre Stimme hallte von den Höhlenwänden wider.
Sicherlich würde der Dämon sie vernehmen, aber welchen Sinn ergab die Unsterblichkeit, wenn es niemanden mehr gab, für den man leben durfte?
Nach einer Weile und trotz mehrerer Schlucke aus der Wasserflasche wurde Haïmoná heiser. Lange hielt sie das Rufen nicht mehr durch.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr: Unter einem der Quader, etwa siebzig Schritte von ihr entfernt, schob sich eine Schwertklinge empor, die langsam vor und zurück bewegt wurde, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Ihr Götter! Haïmoná eilte mit großen Schritten los, setzte über die Trümmer hinweg und behielt die Umgebung im Auge. Das ist Caiphôras Schwert . Sie erkannte es anhand der Gravuren auf der Klinge. Haïmoná erreichte die Stelle, an der die Bruchstücke sich aufeinanderstapelten und einen schmalen Hohlraum geformt hatten.
Sie pochte mit der Speerspitze gegen das Schwert, leise klirrte es. »Caiphôra, ich bin es, Haïmoná«, sprach sie in den Spalt. »Bist du verletzt?«
Die Waffe wurde zurückgezogen, ein blaufarbenes Auge erschien, das nicht ihrer einstigen Gefährtin gehörte. »Hier ist Yágôras. Caiphôra ist bei mir, aber sie hat das Bewusstsein verloren. Sie braucht dringend Wasser und etwas zu essen.«
»Der Spalt ist zu schmal, um …« Haïmoná hatte zunächst Enttäuschung verspürt, als sie den Alb erkannte, doch ihre Geliebte lebte noch! Vor Freude hämmerte das Herz in ihrer Brust. »Warte.« Sie sah sich um und entdeckte in den etwas weiter entfernten Überresten einer Schmiede einen Vorschlaghammer und einen Meißel. »Ich bin gleich zurück.«
Das Werkzeug war schnell eingesammelt, und sofort machte sie sich an die Arbeit, die Lücke mit Meißel und Hammer zu vergrößern. Hell und alarmierend tönte das Kling durch die Höhle, sobald der massive Kopf auf das abgeflachte Ende schlug.
Haïmoná drosch wie von Sinnen, bis der Eisenkeil nach innen in den Hohlraum fiel. Schnell reichte sie Yágôras mehrere Rationen hinein und zwängte den Trinkbeutel hinterher. »Welcher Art sind eure Verletzungen?«
»Quetschungen und einige Platzwunden«, erklärte der Alb von drinnen, seine Stimme klang dumpf. »Das Schlimmste war, dass uns die Vorräte ausgingen.«
Haïmonás Herz tat einen Sprung, als sie Caiphôra schwach husten hörte. Sie musste sich am Wasser verschluckt haben, doch sie lebte.
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